Der Tribut der Wissensarbeit
Wir sind schon weit gekommen auf unserem Weg in die Wissensgesellschaft. Insbesondere unsere Arbeit wird immer mehr zur Wissensarbeit. Von der Bürotür aus betrachtet sieht das etwa so aus: Da sitzt einer, schaut unverwandt auf einen Bildschirm und bearbeitet seine Tastatur. Inzwischen tut er Vergleichbares auch im Besprechungszimmer oder auf Reisen, in der Bahn oder am Flughafen auf dem Laptop oder dem Smartphone. Arbeit im physischen beziehungsweise physikalischen Sinn kann man das nicht mehr nennen. Jeder weiß, dass das nicht gesund ist. Bewegungsmangel beziehungsweise körperliche Unterforderung führt zum Nachlassen der körperlichen Leistungsfähigkeit und gilt inzwischen gemeinhin als erwiesener Risikofaktor für unsere Gesundheit. Folglich nutzen wir vermehrt unsere Freizeit dazu, physische Arbeit zu verrichten: Wir joggen oder gehen ins Fitnessstudio. Und wir geben dafür das Geld aus, das wir bei unserer »Arbeit ohne Arbeit« verdient haben. Ein paradoxer Zustand.

Ist das der Tribut, den wir für unsere Entwicklung zur Wissensgesellschaft bezahlen müssen? Oder könnte man Arbeit nicht so gestalten, dass sie auch unsere Gesundheit umfassend fördert?

Umdenken versäumt: Vom überforderten Schwerstarbeiter zum unterforderten Bürohengst
Man kann diese Entwicklungen einerseits schulterzuckend als unvermeidliche Folge der zwar zu beobachtenden aber kaum zu beeinflussenden Entwicklungen unserer Gesellschaft sehen. Zum anderen kann man aber auch die ideellen Treiber dieser Entwicklung hinterfragen. Und hierfür sind die vorherrschenden Paradigmen der Arbeitswissenschaften beziehungsweise der Ergonomie ein gutes Beispiel. So lernen die Studierenden heute, dass menschengerechte Arbeit so gestaltet werden muss, dass sie erträglich, ausführbar und zumutbar ist. Zudem soll sie persönlichkeitsförderlich und sozialverträglich sein. Diese Kriterienliste zeigt zum einen, dass die Arbeitswissenschaften sowohl die physischen Aspekte als auch die psychischen Aspekte der Arbeit berücksichtigen wollen. So kommen Persönlichkeitsförderlichkeit und Sozialverträglichkeit aus dem psychologischen und sozialwissenschaftlichen Lager. Die ersten drei Begriffe »erträglich, ausführbar und zumutbar« decken auch die physischen Aspekte der Arbeit ab. Die Wortwahl zeigt hier aber eine eher defensive und ablehnende Haltung, die auf eine Begrenzung von Belastungen abzielt. Es wird eben nicht gesagt, dass Arbeit auch physisch fordernd sein soll, was eine wesentliche Erkenntnis der Gesundheitsforschung der letzten Jahre ist. Wir haben es also mit einem Versäumnis in den Arbeitswissenschaften zu tun. Dies wird verständlich, wenn man berücksichtigt, wo man bei den Bemühungen zur Humanisierung des Arbeitslebens hergekommen ist. Arbeit war über Jahrhunderte eben durch hohe physische Beanspruchungen gekennzeichnet, die es zunächst zu begrenzen galt. Die Industrialisierung, die durch Arbeitsteilung immer stärker zu einseitigen Belastungen durch wiederholte Belastungen führte, verstärkte die Problematik noch. Deshalb hat man sich stets mit der Begrenzung der Belastung auseinandergesetzt. Mit der fortschreitenden Verminderung der körperlichen Beanspruchung haben wir aber vergessen, umzudenken. Letztlich haben wir es versäumt, unsere Denk- und Sprechweise und die Vorgehensweisen in den letzten vierzig Jahrenentsprechend zu revidieren.

Kraft und Bewegung in die Arbeit bringen
Dadurch fehlt es an wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie man Arbeit heute richtig gestaltet. Zur Ehrenrettung der Arbeitswissenschaften muss man betonen, dass das Konzept einer angemessenen Beanspruchung bekannt ist und auch gelehrt wird. Probleme bei der Unterforderung wie z. B. Monotonie bekämpft man traditionell aber auf der psychischen Seite oder diskutiert sie in den Medien unter dem Modebegriff »Boreout«. Auf der physischen Seite hat man sich aber mit einer bloßen Begrenzungsstrategie abgefunden. Methoden, Regeln und untere Grenzwerte für eine gesundheitsförderliche Gestaltung physischer Arbeit fehlen. In den Betrieben ist dies dann auch kein Thema, selbst wenn physische Arbeitsanteile vorhanden sind. Man delegiert die Thematik an die betriebliche Gesundheitsförderung, wo man versucht, außerhalb der eigentlichen Arbeitsprozesse in Verteilzeiten, Pausen oder außerhalb der Arbeitszeit für Bewegung bei den Mitarbeitern zu sorgen.

Gibt es nun überhaupt einen Weg zurück zu einer angemessenen physischen Arbeit? Grundsätzlich ist dies natürlich möglich, wenn ein angemessener Teil der in der Wirtschaft anfallenden physischen Arbeit vom Menschen und nicht von Maschinen geleistet würde. Dies ist zwar im heutigen Zuschnitt der Arbeitsteilung nicht einfach zu organisieren. Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, dass es aber durchaus Potenziale gibt:

Neue Arbeitsteilung und Interaktion zwischen Mensch und Maschine?
Arbeiten in der Fertigung Mensch und Roboter zusammen, überlässt man heute dem Roboter die physische Arbeit und weist dem Menschen kognitive Tätigkeiten zu. Dabei wäre es hier durchaus möglich, die Arbeit in der Mensch-Maschine-Kooperation so zu verteilen, dass der Mensch auch einen angemessenen Teil der physischen Arbeit leistet – nicht weil der Mensch das besser kann als der Roboter sondern weil der Mensch physische Arbeit braucht, um gesund zu leben.

Im zweiten Beispiel geht es um die Interaktion zwischen Mensch und Computer, dem typischen Fall moderner Wissensarbeit. Hier ist die physische Arbeit auf ein Minimum reduziert. Die Wertschöpfung liegt letztlich in der Erzeugung von Daten. Aber auch hier gibt es Möglichkeiten. Die Idee liegt nahe, die Energie für den Computer als Benutzer selbst zu erzeugen. Das klingt zunächst abwegig, könnte aber sinnvoll sein – weil der Mensch die physische Arbeit braucht, um gesund zu bleiben. Und im Zeitalter von Green IT scheinen energieautarke Mensch-Computer-Systeme ein attraktiver Ansatz zu sein. Überdies besteht keinerlei Notwendigkeit, die Interaktion zwischen Mensch und Computer auf kleinste Bewegungen zu reduzieren. Die Spieleindustrie hat es uns mit Interaktionsgeräten wie dem wii-Controller oder der Kinect vorgemacht: Die zeitweise Interaktion über grobmotorische Gesten ist durchaus eine Option, die Arbeit mit dem Computer künftig gesünder zu gestalten.

Insgesamt tut Nachdenken und Umdenken in den Arbeitswissenschaften und in der Ergonomie not. Die Forschung sollte hier zuerst ihren Beitrag leisten.

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Manfred Dangelmaier

Institutsdirektor für Engineering-Systeme am Fraunhofer IAO. Virtuelles Engineering sowie Ergonomie und Human Factors sind seine angestammten Fachgebiete - insbesondere wenn es um Fahrzeuge geht. Dabei interessiert er sich für Schnittstellen und auch teilweise quer zum Mainstream liegende Themen.

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Kategorien: Digitalisierung, Mensch-Technik-Interaktion, New Work / Connected Work
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