Stellen Sie sich vor, es ist Winter. So richtig Winter. Der Wind pfeift arktisch aus Nordost, die Schneeberge haben das romantische Maß längst überschritten, und auf den wenigen Straßen, die vom Schnee befreit sind, kann man Schlittschuhlaufen. Unter der Schneelast und durch die heftigen Böen bricht ein Strommast nach dem anderen zusammen und – schwupps – sind 250 000 Menschen ohne Strom. Klingt romantisch? Zusammenkuscheln, Kerzen an und los geht’s mit dem Retro-Abend? Nach spätestens acht Stunden ist es damit wohl vorbei.

Die Münsteraner oder die Blackout-Leser unter Ihnen wissen, was ein solches Szenario bedeutet und wie schnell die Versorgung der Bevölkerung kritisch wird. Heizungen fallen aus, in den Häusern wird es kalt. Das Festnetz geht schon seit Minute 1 nicht mehr, das Handy macht auch bald schlapp. Warmes Essen ist keine Option, auch nicht für Ihr Kleinkind. Die Toilettenspülung tut nicht mehr richtig und auch eine warme Dusche ist nicht drin. Sie wollten den Nachbarn fragen, ob er einen Campingkocher für Sie hat, aber der hat die Tür nicht geöffnet – die Klingel ist tot. Auf den Straßen fängt es an zu miefen. Und Sie machen sich Sorgen um Oma Greta, die allein zu Hause ist, ihre Medikamente braucht und gerade in Stresssituationen mit Gedächtnislücken zu kämpfen hat. In so einer Situation wünscht man sich nur eins: Hilfe, aber schnell.

Drängende Fragen beim Runden Tisch: Versorgung von Pflegebedürftigen und Einbindung von Spontanhelfern

Im Münsterland kam 2005 die Hilfe von den Behörden und Organisationen des Katastrophenschutzes, nicht nur aus dem eigenen Bundesland. Um die Lage zu bewältigen, wurde den Einsatzkräften einiges abverlangt. Beim 6. Stuttgarter Runden Tisch »Forschung im Bevölkerungsschutz« haben wir nun mit Vertreterinnen und Vertretern des Katastrophenschutzes und anderen relevanten Akteuren diskutiert, wie die Bewältigung einer solchen Lage (besser) gelingen kann. Dazu haben wir zwei große Fragen herausgegriffen:

  • 1) Wie kann in einem solchen Szenario die ambulante Versorgung von Pflegebedürftigen, die zu Hause leben, sichergestellt werden?
  • 2) Wie können Helferinnen und Helfer, die teils von außerhalb ins betroffene Gebiet reisen, in die Arbeit des Katastrophenschutzes erfolgreich eingebunden werden?

Helferinnen und Helfer über eine Mittlerorganisation einbinden

Die Behörden und Organisationen des Katastrophenschutzes sind in einer solchen Situation erst einmal damit beschäftigt, ihre eigene Leistungs- und Arbeitsfähigkeit sicherzustellen. Wie soll da genug Zeit bleiben, um Helfer zu koordinieren und individuelle Bedürfnisse von Pflegebedürftigen zu befriedigen? Die Expertinnen und Experten trugen die Probleme und Herausforderungen dieser Situation zusammen (z.B. eingeschränkte Kommunikation, Verkehrschaos, Versorgungsengpässe – auch bei den Einsatzkräften – ggf. Dunkelheit, erhöhter Bedarf insbesondere bei vulnerablen Gruppen) und diskutierten, wie über eine sogenannte Mittlerorganisation (das Konzept haben wir an dieser Stelle schon einmal vorgestellt) die Helferinnen und Helfer koordiniert werden können. Welche Aufgaben können die Einsatzkräfte an die Mittlerorganisation und ihre Helfer abgeben? Schneeschippen, Erkundungsgänge von Ortskundigen, Transport- und Botendienste, Klopf- und Flugblattaktionen, Verteilung von Hilfsgütern, Kinderbetreuung, Übersetzungsarbeit, nachbarschaftliche Hilfe, Unterstützung beim Betrieb von Notunterkünften und Zuarbeiten außerhalb des konkreten Gefahrenbereichs können – zumindest nach einer kurzen Einweisung – delegiert werden. Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden und der Mittlerorganisation braucht dabei eine klare Kommunikation und feste Ansprechpartner auf beiden Seiten, Verlässlichkeit, Augenhöhe und das Wissen um die Kompetenzen, Zuständigkeiten und Grenzen der einen wie der anderen Seite. Zudem muss vorausgesetzt sein, dass die Helferinnen und Helfer selbst versorgt und gut ausgerüstet sind. Wenn bestimmte Fähigkeiten benötigt werden, kann es nützlich sein, dass die Mittlerorganisation auf bestimmte Vereine zugeht und um ihre Mithilfe bittet. Werden weitere professionelle Einsatzkräfte benötigt, wäre es denkbar, das Krisenmanagement von Unternehmen der Region um ihre Mithilfe zu bitten.

Pflegenetzwerke anzapfen

Die Helferinnen und Helfer könnten so die Behörden in der Bewältigung der Lage unterstützen. Doch was tun, um gemeinsam die ambulante Versorgung von Pflegebedürftigen sicherzustellen? Das größte Problem liegt auf der Hand: es gibt keine gesammelten Informationen darüber, wo Betroffene mit welchen Bedarfen leben und ob sie schon Unterstützung haben oder noch welche benötigen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Runden Tischs diskutierten, wie sie in dieser Situation vorgehen und ein ganzes Netzwerk an Unterstützern anzapfen würden: Der Krisenstab sollte über den Betreuungsdienst mit den kommunalen Pflegeberatungen in Kontakt treten, die ihrerseits bestens vernetzt sind mit den ambulanten Pflegediensten und weiteren wichtigen Akteuren im Sozialraum – und dann würde der Schwarm loslegen und seine Arbeit tun. Bedarfe identifizieren, priorisieren, kommunizieren, lösen. Auch alternative Wege der Kommunikation und Informationsverbreitung wurden diskutiert, die bei Stromausfall funktionieren: Mund-zu-Mund-Propaganda, Lautsprecher-Durchsagen, Flugblätter- und Klopf-Aktionen. Wenn es dann noch zentrale Versorgungsstellen gibt, die für die Betreuung von besonders stark betroffenen Pflegebedürftigen geeignet sind, ist das Schlimmste überstanden.

Ehre neu definieren

Sie sehen, auch das Horrorszenario Wintersturm mit Stromausfall lässt sich bewältigen – und das am besten gemeinsam. Die große Teilnehmerzahl beim Runden Tisch macht deutlich, dass den Behörden und Organisationen des Katastrophenschutzes die erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Bevölkerung unter den Nägeln brennt. Das ist natürlich keine triviale Sache und fordert den Behörden einiges ab. Auch in den eigenen Reihen müssen Vorbehalte gegenüber ungelernten Helfern abgebaut und Ehre und Stolz neu definiert werden. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern braucht seine Zeit. Aber der Anfang ist gemacht.

PS: Häufig werden rechtliche Bedenken ins Feld geführt, die der Zusammenarbeit mit der Bevölkerung im Weg stehen. Um diese auszuräumen, war Harald Erkens, Jurist und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn, bei uns zu Gast. Lesen Sie seine rechtliche Sicht auf die Lage in Kürze hier im IAO-Blog.

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Veronika Prochazka

Veronika Prochazka hat das Institut 2023 verlassen.

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