»Agilität« ist das neue Paradigma moderner Arbeitsorganisation. Unsere Spurensuche nach Agilität im öffentlichen Dienst führte uns in das Polizeipräsidium Stuttgart. Im Gespräch mit dem leitenden Polizeidirektor Harald Weber sowie seinen beiden Kollegen Gerd Burkhardt und Florian Brachvogel gingen wir der Frage nach, ob Polizeiarbeit überhaupt etwas mit Agilität zu tun haben kann. Wir waren überrascht über so manche Antwort. Unsere Polizei ist in einigen Teilen agiler, als man zunächst vermuten mag.
Linientreue: Eine Stablinienorganisation ist grundsätzlich nicht agil
Wenig überraschend ist, dass die Polizei im Grunde einer klassisch hierarchischen Struktur folgt, bis heute die Wege der starren Stablinienorganisation nicht verlassen hat und diese wohl auch künftig nicht verlassen wird. Das ist natürlich konträr zu jedwedem Konzept einer agilen Organisation. Doch zum agilen Dasein gehört mehr als nur die reine Organisationsform.
Jetzt wird’s agil: Der Schlüssel für den Krisenfall sind Variabilität, Lernfähigkeit und proaktives Denken
Damit eine Organisation als agil gelten kann, muss sie sich einer verändernden Umwelt anpassen können und hierbei maximale Effizienz zeigen. In der Polizeiarbeit kann die Notwendigkeit zur Transformation quasi von einer Sekunde auf die andere passieren und die gesamte Organisation erfassen. Wie schnell sich der Wandel von der Routine zur unvorhersehbaren Krisenarbeit vollzieht, lässt sich zahllosen Ereignissen der Vergangenheit entnehmen. Man stelle sich etwa vor, dass mit Erkennung einer Gefahrenlage innerhalb kürzester Zeit ein Krisenstab gebildet, Logistik organisiert und Personal aus der Routinearbeit freigesetzt werden muss. Der Erfolg setzt ein hohes Maß an Anpassungsbereitschaft der gesamten Organisation sowie ein stetiges Monitoring der Umwelt zur frühzeitigen Erkennung von Veränderungen voraus. Das ist durchaus agil. Welches Unternehmen schafft den schlagartigen Sprung vom Alltagsgeschäft hin zur Bewältigung eines ad-hoc »Großprojekts«?
Darüber hinaus werden Ereignisse jenseits der Routine systematisch reflektiert und das erlangte Wissen für künftig ähnlich gelagerte Situationen einsetzbar gemacht. Neben reiner Reflektion findet aber auch eine ausgeprägt proaktive Herangehensweise statt. So werden denkbare Szenarien aufgrund des erlangten Wissens und des Weitblicks auf künftige Entwicklungen mittels strukturierter »Schablonen« vorbereitet. Der Plan für allenfalls schemenhaft Vorhersehbares liegt also bereits in der Schublade und kann im Bedarfsfall schnell modifiziert werden. Eine gelungene schnelle Transformation hat ihre Wurzeln im gekonnten Weitblick und nicht in der Blindheit der Routine. Proaktives Denken und systematisches Lernen in der Organisation tragen ebenfalls agile Züge. Erfolgreiche Polizeiarbeit ist somit in Variabilität, Lernfähigkeit der Organisation durch gekonnte systematische Reflektion sowie vorausschauendem Denken zu finden.
Von wegen blinder Gehorsam: Polizeiarbeit heißt ein hohes Maß an Eigenverantwortung
Es ist ein Märchen, dass die Stablinienorganisation der Polizei gleichzusetzen ist mit blindem Gehorsam. Polizeiarbeit heißt Arbeit mit Menschen und das auch häufig in brisanten Situationen. In einem solch situativen Kontext bleibt meist nur eines: »Entscheide und handle nach eigenem Ermessen und dem was du gelernt hast«. Polizist sein heißt auch ein Chaos-Manager zu sein, das gehört zum Job. Ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit jedes Beteiligten, abgeschnitten von der Befehlskette, zeigt einen klaren Unterschied zum Alltag vieler Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung. Hier heißt es dann aber auch seitens der Führungskräfte, die Entscheidung auf Basis der bekannten Situation im Nachgang nachzuvollziehen und für die eigenen Leute da zu sein, wenn mal etwas schiefläuft. Eine Herausforderung, die Führung nicht immer leichtmacht, aber Eigenverantwortlichkeit der eigenen Mannschaft erst ermöglicht. Ein hohes Maß an organisational gewünschter Eigenverantwortlichkeit jedes Einzelnen ist ein deutliches Zeichen für eine agile Organisation. Auch hier zeigt sich die Polizei durchaus beispielhaft.
Kein Beruf, sondern eine Berufung: Ein außergewöhnlich agiles Mindset
Eine hohe Identifikation mit der Organisation und deren Tätigkeitsspektrum sollte der zentrale Leitgedanke von Organisationen sein, welche sich Agilität auf die Fahne geschrieben haben. Hier hat die Polizei einen klaren Vorteil. Es strebt wohl kaum jemand den Dienst als Polizeibeamter an, wenn keinerlei Identifikation mit der Organisation Polizei und ihrem Aufgabenfeld besteht. Die Beamten leisten sehr oft weit mehr als nur Dienst nach Vorschrift. Wenn es brennt, sind die Kollegen bereit, auch ad-hoc die Beschneidung ihrer Freizeit hinzunehmen, um die Situation gemeinsam in den Griff zu bekommen. In der Organisation herrscht ein besonderes Mindset und eine hohe Identifikation mit der eigenen Aufgabe vor. Eine so weitgehende Verankerung eines solchen zentralen Leitgedankens fehlt wohl vielen Organisationen und Unternehmen, welche sich gerne als agil bezeichnen würden. Überträgt man dies in die Unternehmenswelt, so zeigt sich das unternehmerische Denken jedes Einzelnen. Und das ist einer der wertvollsten Bausteine agiler Unternehmen.
Am Bedarf vorbei: Mehr Agilität bei der Mittelverwendung
Agile Organisationen setzen in schnellem Maße Mittel frei, um erkannte neue Wege zu beschreiten. Die Mittelverwendung wird dabei nicht fernab der Praxis entschieden, sondern praxisnah und ad-hoc am erkannten Bedarf gesteuert. Im Interview wird allerdings klar, dass dringliche Beschaffungen aufgrund umfangreicher Ausschreibungsformalitäten und -laufzeiten sowie langer Dienstwege nicht zeitnah befriedigt werden können.
Fazit und ein großes Dankeschön!
Polizeiarbeit mag zwar in der wenig agilen Welt des öffentlichen Dienstes stattfinden, aber die Beamten vor Ort zeigen sich in erstaunlich »agiler Verfassung«. Hieran sollte weitergearbeitet werden, denn eine sich immer rascher wandelnde Umwelt verlangt auch eine agile Polizei.
Zum Schluss ein großes Dankeschön an eine sehr gastfreundliche und offene Stuttgarter Polizei und an meine ehemalige Kollegin Sabine Fülber, mit welcher ich dieses Interview gemeinsam führen durfte.