Im Zeitalter von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz nimmt die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine eine Schlüsselrolle ein. Neuroadaptive Technologien versprechen große Potenziale sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis. Im NeuroLab des Fraunhofer IAO arbeiten die Wissenschaftler*innen an der Schnittstelle zwischen kognitiver Neurowissenschaft, positiver Psychologie und künstlicher Intelligenz. Unser Ziel ist es, die zunehmende Intelligenz und den steigenden Grad an Autonomie technischer Systeme konsequent auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Menschen auszurichten.
Heutzutage ist ein Alltag ohne die Hilfe von intelligenter Technik kaum vorstellbar. Wir begegnen immer häufiger technischen Systemen, die in einem gewissen Rahmen eigenständig Entscheidungen treffen und Handlungen ohne menschliche Einwirkung ausführen, z.B. Service- und Pflegeroboter, selbstfahrende Fahrzeuge oder Chatbots. Sensoren, die fortschreitende Digitalisierung sowie Technologien der künstlichen Intelligenz leisten dazu einen enormen Beitrag und können als Enabler-Technologien angesehen werden auf dem Weg zu einer immer »autonomeren und intelligenteren Technik«. Durch Technologieinnovationen lassen sich Tätigkeiten und Prozesse zunehmend automatisieren. Die Neuroergonomie sorgt dafür, dass dabei nicht der Mensch sich an die Technik anpassen muss, sondern dass die Technik anpassungsfähig und menschzentriert ist. Wenn Technik besser auf den Menschen eingehen kann, erhöht das deren Akzeptanz und damit auch deren Wirksamkeit und Erfolg – egal in welcher Branche und für welchen Anwendungsfall.
Die Zusammenführung von intelligenter Technik in bestehende Lebens- und Arbeitswelten bringt auch neue Herausforderungen und Konfliktpotenziale mit sich. Der Wert der Technik wird nicht in erster Linie darin liegen, dass sie menschliche Arbeit übernehmen kann; die Zukunft wird vielmehr durch eine enge Kooperation mit ihr geprägt sein. Die Technik muss so gestaltet sein, dass sie allgemein nachvollziehbar und gesellschaftlich akzeptiert ist. Neuroergonomie und Brain-Computer Interfaces könnten hier zu den entscheidenden »Übersetzungshilfen« zwischen Menschen und Maschinen werden. Fragen, die dadurch beantwortet werden können, sind z. B.
- Wie kann man feststellen, wie hoch das Stresslevel bei verschiedenen Arbeitstätigkeiten ist, um dem entgegen zu wirken?
- Wie kann ich bei Kund*innen ein positives Nutzererlebnis für mein Produkt oder meinen Service bewirken?
- Wie kann sich ein Roboter individuell auf die Person einstellen, die mit ihm zusammenarbeitet?
Solche und viele weitere Fragestellungen rund um die Mensch-Technik-Interaktion gehen wir im Team durch die Neuroergonomie an.
Was kann die Neuroergonomie leisten?
Damit die Herausforderungen, Probleme und Fragestellungen einer sich immer schneller veränderten und technologisierten Arbeits- und Lebenswelt angegangen und beantwortet werden können, bedarf es neben psychologischen auch neurowissenschaftlichen Methoden zur Messung mentaler Faktoren der User Experience (UX), Usability und Technikakzeptanz. Sprach-, gesten- oder sogar gedankengesteuerte Technologien verändern allmählich nicht nur die Art und Weise, wie wir mit Technologien zusammenarbeiten, sondern auch unsere Fertigkeiten und Fähigkeiten werden auf unterschiedliche Weise beeinflusst. Der praxistaugliche Transfer von neurowissenschaftlichen Methoden wird für Unternehmen von immer größerer Bedeutung sein, um Produktentwicklung, Prozessführung und Arbeitsschritte im Hinblick auf ein positives Erlebnis zu verbessern und menschengerecht zu gestalten.
In diesem Zuge ist die Neuroergonomie eine Forschungsdisziplin mit großem Potenzial, auch für die wirtschaftliche Praxis. Das Forschungsfeld liegt an der Schnittstelle zwischen Psychologie, kognitiver Neurowissenschaft, Arbeitswissenschaft und Künstlicher Intelligenz. Zwei grundlegende Ziele werden dabei verfolgt:
- 1. Ein besseres Verständnis der menschlichen Leistungs- und Entscheidungsfähigkeit und den zugrundeliegenden Hirnfunktionen zu erhalten,
- 2. Das körperliche und mentale Wohlbefinden bei der Arbeit und im Alltag zu fördern.
Hierzu forscht unser Team an der automatischen Erkennung von kognitiven, also gedanklichen, und emotionalen Prozessen, um diese zur Verbesserung der Technik nutzen zu können und so einen neuen Meilenstein in der Interaktion zwischen Mensch und Technik zu schaffen. Dabei wenden wir Theorien und Methoden der Neuroergonomie an, um die zugrundeliegenden psychologischen Prozesse während des Alltags zu verstehen. So sollen zum Beispiel Kenntnisse über die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns genutzt werden, um sichere und komfortable Schnittstellen zu technischen Systemen zu entwickeln. Anwendungsgebiete sind z. B. die Luftfahrt, Kontroll- und Überwachungsaufgaben, das (teil-) automatisierte Fahren, Marketing und Produktevaluation oder die Interaktion von Menschen mit Computern sowie weitere autonome und adaptive Maschinen oder Roboter. Unser Forschungsspektrum erstreckt sich dabei von der Erforschung menschlicher Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, der Entscheidungsfindung und mentalen Beanspruchung bis hin zum emotionalen Erleben.
Produkt-, Akzeptanz- und Technikevaluation per Neuro-Methodenkasten
Zentraler Bestandteil unserer Forschung sind mobil einsetzbare, neurophysiologische und kamera- oder sensorbasierte Verfahren, um anhand der gemessenen Signale Rückschlüsse auf die Aufmerksamkeit, Gefühle, kognitive Belastung, Produktwirkung, Akzeptanz, aber auch das Allgemeinbefinden eines Nutzers oder einer Nutzerin zu schließen. So haben wir einen flexibel einsetzbaren Methodenkasten – Methoden der Neuroergonomie und Positiven UX – zur Produkt- und Technikevaluation entwickelt. Dadurch können wir möglichst objektive Evaluationen, empirisch fundierte Betrachtungen, zugeschnittene Neuro-Usertests und nach Wunsch auch Schulungen zu den Methoden anbieten, die für die Verbesserung von Produkten, Services und Arbeitsabläufen verwendet werden kann. Unsere Vorgehensweise und Ergebnisse lassen sich bereits heute in zahlreichen Anwendungsfeldern einsetzen, darunter zum Beispiel:
- User Experience Testing – z. B. von digitalen Dienstleistungen und User Interfaces,
- Produktwirkung – z. B. von Lebensmitteln und Konsumgütern,
- Gesundheit – z. B. Gemüts- und Körperzustände bei Patient*innen,
- Arbeitsbelastung – z. B. Operateure von sicherheitskritischen Infrastrukturen,
- Mensch-Technik-Interaktion im Allgemeinen – z. B. Fahrerzustandserkennung und Kollaboration mit Robotern.
Tabelle 1 gibt einen Überblick über die wichtigsten technischen Fragen für die praktische Anwendung der Neurotechnologien: Wie gut lässt sich die jeweilige Technologie mobil im Alltag einsetzen? Wie hoch ist der Aufwand in der Vorbereitung? Wie gut ist die zeitliche Auflösung der gemessenen Signale? Fortschritte der Mess- und Erkennungstechnologien erlauben es uns zunehmend, einfach handhabbare Messungen durchzuführen. So können neurophysiologischer Signale auch außerhalb des Labors – unter realen Bedingungen – gemessen werden.
Einen Blick über den Tellerrand – Brain-Computer Interfaces
Computer und Maschinen sind durch maschinelles Lernen (ML) zunehmend in der Lage zu lernen und Entscheidungen zu treffen. Sprach-, Gesten- und Mimikerkennung ersetzen dabei frühere Eingabegeräte wie Maus und Tastatur. Die Fortschritte in Neurotechnologien in Kombination mit verbesserten ML-Algorithmen erlauben es, aus den erfassten neuronalen Signalen Handlungen automatisch abzuleiten. Eine Schlüsselerfindung stellt hier das Brain-Computer Interface (BCI) dar. Ein BCI nutzt Sensoren zur Messung von Hirnsignalen, z.B. die EEG. ML-Algorithmen verarbeiten EEG-Signale und interpretieren diese so, dass ein Computer sie dann für eine Aktion nutzen kann. Seit ihren Anfängen in den 1970er-Jahren konzentrierte sich die BCI-Forschung vor allem auf klinische und medizinische Anwendungen. Hauptziel war es, Anwender*innen mit körperlichen oder sensorischen Einschränkungen ein Kommunikations- oder Hilfswerkzeug zur Verfügung zu stellen, z.B. zur computerbasierten Kommunikation oder Fortbewegung bei Locked-in- oder Schlaganfallpatienten.
Die Einführung weiterer Konzepte in der BCI-Forschung ebnen den Weg für den nicht-klinischen Einsatz. Bei diesem werden Hirnsignale als kontinuierliche Messung erfasst, die dazu dienen, kognitive oder emotionale Prozesse der Nutzer*innen in Echtzeit zu erkennen. Als Folge kann das System adäquat reagieren. Es lernt somit vom Menschen, was für eine optimale Zusammenarbeit notwendig ist und kann sich an die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Nutzer*innen anpassen. Solche BCI ermöglichen eine direkte Kommunikation zwischen Mensch und System, ohne speziellen Aufwand vonseiten des Menschen. Es erleichtert und verbessert die Mensch-Technik-Interaktion und ermöglicht es, die zu erledigende Aufgabe mit der Unterstützung eines technischen Systems optimal auszuführen.
Anhand von praktischen Beispielszenarien und Zukunftsvisionen forschen wir im Team, welches Potenzial und welcher Mehrwert sich dadurch für die Entwicklung von adaptiven und autonomen Assistenzsystemen ergibt. Anwendungsbeispiele sind:
- physiologische Monitoringsysteme für die Fahrerzustandserkennung,
- neuro-adaptive Lernassistenten und -programme,
- der Einsatz von BCI zum verbesserten Eintrainieren von Roboterverhalten während der Interkation mit dem Menschen.
Und keine Angst: Gedankenlesen kann man mit BCI definitiv nicht. Der Inhalt von Gedanken und das physiologische Signal eines Gedankens sind zwei Paar Schuhe. Wir sind also weit entfernt von Science-Fiction :-).
Leselinks:
- Angewandte Neurowissenschaft: Warum Zukunftstechnologien aus der Hirnforschung kommen werden
- NeuroLab des Fraunhofer IAO
- Neurowissenschaften für eine bessere UX
- Leistungen rund um Feinfühlige Technik
- Blogbeitrag: Neuroadaptive Technologien – wenn Technik feinfühliger wird
- Video: »Lab-Live: Das NeuroLab im Praxis-Check«