Selbstorganisation, Agilität und Mitgestaltung sind momentan die Schlagworte, unter denen »New Work« vielerorts ausprobiert wird. Selbst- bzw. teamverantwortliche Ansätze verheißen agile Arbeits- und Organisationsstrukturen, schnelle Reaktionsgeschwindigkeiten, weniger Hierarchien, weniger Komplexität sowie die Fähigkeit, sich schnell an neue Gegebenheiten anzupassen. Was ist wirklich dran an den gut klingenden Schlagworten, wie sieht es in der täglichen Unternehmenspraxis aus?
Wir begleiten derzeit zwei Organisationen, die zur Umsetzung von Konzepten der Selbstorganisation spezifische Experimentierräume ausgerufen haben, und lernen dabei täglich Wertvolles dazu. Die Mitarbeitendengruppen umfassen dabei sowohl klassische Sachbearbeitungsaufgaben als auch Teams mit Aufgaben der Softwarespezifikation und -entwicklung. Wir arbeiten also nicht nur mit Vertretern der »digitalen bohème«, sondern auch mit Mitarbeitenden in ganz typischen, millionenfach vorhandenen Jobprofilen und in Unternehmen, die es auch schon eine ganze Weile gibt und die bisher führungsseitig sehr »klassisch« aufgestellt sind.
Meine bisherigen Lernerfahrungen möchte ich gerne mit meiner Leserschaft teilen, und ich freue mich auf Kommentare, Widerspruch und Ergänzung.
»Was kommt da auf mich zu?« Gesunde Skepsis statt Begeisterungsstürme zu Beginn
Gleich vorab: es ist nicht so, dass jeder gleichermaßen von der Möglichkeit der kooperativen Selbstbestimmung und -organisation begeistert ist. Wir sehen anfangs oft viele verschränkte Arme und eine gesunde Skepsis. Spontane Befürchtungen adressieren drohende Mehrarbeit (bei bereits häufig gefühlt großer Arbeitsverdichtung), Qualitätsverluste und deutlich mehr Aufwand für Kommunikation und Abstimmung. (»Müssen wir dann jeden Tag ein Meeting machen?«).
Der Effekt der »Erstverschlimmerung«
Die Einführung von Selbstorganisation verstärkt zunächst einmal die Dynamik der Gruppe – im Positiven wie im Negativen. Beim Nachdenken über diesen Effekt ist mir der Begriff der »Erstverschlimmerung« aus dem Bereich der Homöopathie in den Sinn gekommen. Klar ist: wo bisher Spannungen, Disbalancen, Eifersüchteleien oder Rangkämpfe nur mühsam verdeckt stattgefunden haben, kommen diese nun offen zum Vorschein. Jetzt muss die Gruppe für sich einen Modus entwickeln, offen, direkt und konstruktiv mit unterschiedlichen Erwartungen, Unzufriedenheit und Absprachen umzugehen und klare Rollen sowie die verbindliche Zusammenarbeit definieren. Dies kann auch durch die Hilfestellung von Coaches, »Gelingerteams« oder mit anderen Maßnahmen funktionieren. Jetzt zeigt sich, wieviel Feedbackkultur, Kritikfähigkeit, Hilfsbereitschaft und Interesse am anderen tatsächlich vorhanden sind; und es wird schnell notwendig, hierzu explizit eigene Methoden und Rituale zu entwickeln und zu pflegen. Schon kleine Bausteine können hier große Wirkung entfalten: Ein Stand Up-Meeting zweimal pro Woche, kurz und knapp, das individuelle Arbeitsstände, Belastungen und Herausforderungen thematisiert, kann zu einem zentralen Baustein werden.
Die Führungskräfte bleiben wichtig – in einem neuen Aufgabenzuschnitt
Führungskräfte können nicht von einem auf den anderen Tag »verschwinden«. Im Idealfall werden Sie zum Resonanzgeber, Zuhörer und Sparrings-Partner im Umgestaltungsprozess, der aber keine Entscheidungen trifft. Dies erfordert sehr reflektierte Führungskräfte und einen ganz bewussten Abschied von der bisherigen Funktion, dem damit verbundenen Status und eine Neudefinition der eigenen Aufgabe über den Umgestaltungsprozess hinaus. Unseren bisherigen Stand dazu formulieren wir folgendermaßen: Führungskräfte im Sinne personaler Führung könnten dann in Zukunft eine eher entwicklungsbegleitende, vernetzende, inspirierende Funktion übernehmen.
Eine solche Veränderung klappt nicht von heute auf morgen
Wichtig ist, dass die Organisationseinheit die Rückendeckung erhält, Dinge auszuprobieren, echt zu experimentieren und dabei bisherige Grenzen zu überschreiten. Wichtig ist auch, dass wirklich alle sich einbringen können und dürfen. Aber zur Realität gehört ebenso, dass es Mitarbeitende und Führungskräfte geben kann, die dafür nicht geeignet sind oder es schlicht nicht wollen.
Achtung Ansteckungsgefahr? Mitzieheffekte beim Rest der Organisation
Zur Rückendeckung gehört, als »Nachbar« einer sich selbst organisierenden Einheit diese zu akzeptieren und damit einhergehende Veränderungen für den eigenen Bereich mindestens in Kauf zu nehmen. Noch besser wäre es, diese als Anstoß für eigene Überlegungen zu nutzen. Ganz praktisch: Wenn das Team in eine bestehende Leitungsrunde jedes Mal einen anderen Teamvertreter schickt, kann das auf Unwillen stoßen. Wenn das selbstorganisierte Team bei seiner Arbeit (hoffentlich) die ein oder andere Schwachstelle in übergreifenden Prozessen sieht und Änderungen wünscht, sollte die Gesamtorganisation veränderungswillig sein. Wir sehen: Das Motto »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass« ist auch hier nicht umsetzungsfähig. Ja, man kann lokal beginnen und das ist sicherlich auch ein guter (und häufig der einzig realistische) Weg. Aber jeder sollte sich klar sein: Die Wirkungen dieser Veränderung können und sollten nicht lokal begrenzt sein. Im besten Fall geht von einer solchen Keimzelle ein Veränderungsimpuls auch für andere Organisationseinheiten aus.
Auch die Begleitung und Beratung muss sich umstellen
Nicht zuletzt verändert die Einführung von Selbstorganisation in einem Experimentiermodus unsere eigene Rolle als begleitendes, angewandtes Forschungsinstitut. Wir sind gefragt, wenn es um Referenzbeispiele geht, aber im Zweifel gilt: »Haltet euch zurück, stellt lieber nur die richtigen Fragen, moderiert und vermittelt, aber Lösungen sind bitte nur dann anzubieten, wenn wir selber nicht mehr weiterwissen«. Das macht die Arbeit vor Ort manchmal etwas unplanbarer. Aber in jedem Fall spannend!
Mein Zwischenfazit?
Die Einführung von Selbstorganisation erfordert die aktive Auseinandersetzung mit den eigenen Arbeitsprozessen und dem kommunikativen Miteinander. Idealerweise trägt der Veränderungsprozess dazu bei, die Abläufe sowie die Lern- und Veränderungsfähigkeit der Mitarbeitenden und der Organisationsstruktur zu optimieren. Schnittstellen müssen sauber organisiert sein und dank wechselnder Rollen und Aufgaben ist ein dauerhafter Lernanreiz gegeben. Und sie führt zwangsläufig zur Weiterentwicklung bzw. Neudefinition von Führung in ihren Rollenbildern, Kompetenzen und Systemen. Beteiligungsorientiert und mit dem Mut für neue Erfahrungen realisiert, kann Selbstorganisation ein Dominostein und zu einem Katalysator für dauerhafte und weitergehende Veränderung in der Gesamtorganisation werden.
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