Das vergangene Wochenende in Stuttgart wurde mit Spannung erwartet angesichts der Fragestellung, ob sich die Ausschreitungen von der vorherigen Samstagnacht in der Innenstadt wiederholen. Über 500 unkontrollierte Jugendliche, über 200 Polizeikräfte, 40 zerstörte Einsatzwagen, 25 Festnahmen, Körperverletzung gegen Polizei und am Ende Dutzende zerstörte Schaufenstern sind das Ergebnis jener Nacht. In den sozialen Medien ist einiges angekündigt worden. Fazit: Es blieb überwiegend ruhig. Aber wenn man die einzelnen Vorfälle in den Zusammenhang setzt, stellt man fest: Die Zukunft der Innenstädte hat schon längst begonnen – ein Wissenschaftsblog in vier Akten.
1. Akt – Rückblick: Die Zutaten für die Eskalation in Stuttgart
Die Ausschreitungen in Stuttgart stehen in der Logik eines neu erstarkten Kräftespiels zwischen Gesellschaft und Staat. Durch eine unvorhersehbare Kombination aus Einflussfaktoren der letzten Wochen – angefangen vom Lockdown deutscher Städte über den tragischen Tod von George Floyd durch Polizeigewalt in den USA, der anschließenden länderübergreifenden #blacklivesmatter-Bewegung bis zu ganzen Besetzungen von Innenstadtbereichen wie der »Capitol Hill Organized Protest« (CHOP) in Seattle – ergab sich eine Sondersituation, in er ein einzelner Vorfall am Samstagabend (Polizeikontrolle) eine große Solidarisierung der umgebenden feiernden Jugendlichen erzeugte und diese bis weit nach Mitternacht anschließend Teile der Innenstadt verwüsteten. Am Montag darauf beschritten Landesinnenminister Strobl und Bundesinnenminister Seehofer die Szenerie, Ministerpräsident Kretschmann äußerte sich bestürzt dessen, Deutschland schaute verwundert aufs sonst so sichere »Ländle« und die Polizeipräsenz wurde für das Wochenende darauf deutlich erhöht. Fazit: Erneute Ausschreitungen blieben aus, die Polizei sprach Sonntag von »einer ruhigen Nacht [war] ohne besondere Vorkommnisse«. Dennoch gab der Anblick eines WaWe 10 (Wasserwerfer 10.000 – immerhin landesgerecht ein Typ mit Mercedes-Benz Fahrgestell) am Sonntagmorgen in der Stuttgarter Altstadt neben dem Alten Schloss und der Alten Kanzlei zu denken. War es das?
2. Akt – Galeria Kaufhof und der Anfang vom Ende vieler Filialen
Erste Infos sind bereits Mitte Mai an die Öffentlichkeit gelangt: Gemäß des »geleakten« Sanierungsplans der Warenhauskette Galeria Kaufhof Karstadt sollten von 90 der 170 Filialen geschlossen werden. Bis zu 10% des Personals sollen zusätzlich in den verbleibenden Filialen eingespart werden – ein Kahlschlag. Mitte Juni waren es dann 62 Filialen in vielen deutschen Großstädten. Und es geht weiter: Die Tochter Karstadt Sports verkündet am 20. Juni die Schließung von 20 ihrer 30 Filialen, die Lebensmittelkette Real – eigentlich ein Grundversorger mit kontinuierlicher Nachfrage – vermeldet am 29. Juni acht Filialschließungen. Bei C&A mit einem Filialnetz von noch 450 Geschäften werden 13 Standorte in diesem Jahr voraussichtlich gestrichen.
Selbst im Bankensektor erzeugen Covid-19 und die anhaltende Digitalisierung tiefgreifende Veränderungen: Die Hamburger Volksbank lässt nach der temporären Schließung von 13 Geschäftsstellen diese nun dauerhaft zu – »Omnikanal« heißt hier das Wort der Stunde. Ende 2019 gab es laut Bundesbank in Deutschland noch knapp 27.000 Bankfilialen, zehn Jahre zuvor waren es fast 12.000 mehr. Prognostiziert wird, dass die Zahl der Geschäftsstellen bis zum Jahr 2025 auf 16.000 absackt. Bei linearer Fortschreibung dieses Trends macht dann in spätestens fünfzehn Jahren die letzte Bankfiliale Deutschlands zu. Ob es wirklich so lange dauert?
3. Akt – »Nighttime in Cities« und Innenstädte als soziale Orte
Anstatt gleich reflexartig vom Filialsterben auf die digitale (vermeintlich böse) Plattformökonomie zu schließen, bleibt unser Fokus zunächst auf der Innenstadt – man spricht nicht umsonst vom »Herzen einer Stadt«. Es ist der Ursprung, die Identität und das Zukunftslabor eines jeden städtischen Systems. Hier trifft alles zusammen, was unseren Alltag bestimmt: Einkaufen in der Fußgängerzone, Freizeit in Cafés und Restaurants, Erholung im städtischen Park, Kultur in Museen und Theatern, Rathäuser, Büros und viele Dienstleistungen.
Was oft vergessen wird (zumindest noch in Deutschland) ist, dass Innenstädte an sich keine »Schließzeit« haben – sie funktionieren 24/7 und sind als öffentliche Räume zu jeder Zeit und für jeden zugänglich. Die »Nighttime in Cities« ist auch ein neues Forschungsfeld urbaner Systeme am Fraunhofer IAO, welches gerade zwischen »SmartCity«-Entwicklungen auf der einen Seite und einer sich wandelnden Datenökonomie auf der anderen Seite etabliert. Auch der erste demokratisch gewählte »Advokat« der Nacht (Nachtbürgermeister) in Deutschland stand 2018 in Baden-Württemberg, genauer gesagt in Mannheim, als Vermittler zwischen einer städtischen Tag- und Nachtwirtschaft fest.
Und um die Brücke zum Leitthema der Ausschreitungen in Stuttgart zurück zu schlagen, gilt es zu erkennen: Nachtwirtschaft ist systemrelevant und wichtiger Bestandteil der sozialen und kulturellen »Layer« einer Stadt. Wenn Clubs und Bars offen sind, verteilt sich die junge und jung gebliebene Generation je nach Musikgeschmack und Feierlaune und achtet (je nach Türsteher) auf das eigene Erscheinungsbild – wenn Clubs und Bars Corona-bedingt geschlossen sind, braucht es neue »Ventile« und auch Versammlungsorte für Entspannung und Treffen am Wochenende. Dies hat sich in Stuttgart rund um den »Eckensee« neben dem Neuen Schloss entwickelt: ein sozialer Ort im Herzen der Stadt, an dem sich unterschiedlichste Jugendmilieus und Gruppierungen vermischen. Sicherheit, Kultur, Soziales und Technologie sind folglich neu zu bewerten.
4. Akt – Innovationsoffensive für die Zukunft der Innenstadt – JETZT!
Alle zuvor aufgezeigten Fakten und Hintergründe der letzten acht Wochen zeigen den immensen Handlungsbedarf für ein neues und vor allem intersektorales (zwischen Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft) sowie branchenübergreifendes (vom Verkehrsanbieter über Stadtreinigung bis zum Finanzdienstleister und dem Kulturbetrieb) Denken und Handeln auf. Das Wesen unserer Gesellschaft liegt nicht in einem Ministerium in einer Hauptstadt – sondern in jedem einzelnen kulturellen und sozialen Zentrum von über 12.000 Städten und Gemeinden in Deutschland. Die Innenstädte von morgen müssen neu gedacht werden und vor allem resilient für eine unsichere Zukunft aufgestellt werden:
- Bereits in unserer Studie »AFKOS« haben wir 2019 aufgezeigt, dass allein im Verkehrssektor bis zu 50 Prozent heutiger innerstädtischer Verkehrsflächen frei werden könnten durch gemeinschaftliche autonome und durch Letzte-Meile-Lösungen ergänzte Mobilitätssysteme.
- Umgekehrt könnten ungenutzte Flächen in Parkhäusern und Tiefgaragen durch »Vertical Farming« (gleichnamige Studie aus 2018) wieder eine Innenstadt zu einem »Kornspeicher« machen, d.h. echte hochwertige Lebensmittel im Herzen einer Stadt produzieren – ressourceneffizient mit Bioqualität und minimalen Transportwegen.
- Für die innerstädtische Immobilienwirtschaft entstehen bei vorausschauender Planung neue adaptive Nutzungskonzepte sowie datenbasierte Dienstleistungen im Lebenszyklus.
- Und für Kultur- und Tourismuswirtschaft idealerweise neue Standort- und Erfolgsfaktoren von morgen.
- Nicht zuletzt spielt die Digitalisierung mit neuen Kommunikations- und Informationstechnologien und sich veränderter Technologieakzeptanz (von 5G bis Bluetooth-Sensing) im öffentlichen Raum eine zunehmende Rolle.
Das Fraunhofer IAO startet im Herbst im Rahmen der Morgenstadt-Initiative einen neuen Forschungsverbund, um praxisnahe Innovationen für alle Akteure einer zukunftsweisenden Innenstadt von morgen – aus Verwaltung und Wirtschaft – zu gestalten. Neugierig geworden? Wenn Sie Ihre Ideen einbringen möchten, kommen Sie gerne auf mich zu!
Leselinks:
- Spiegelartikel: »Stuttgart nach den Krawallen«
-
Projektseite Stadtsystem-Gestaltung & Mobilitäts- und Innovationssysteme:
www.muse.iao.fraunhofer.de - Studie »AFKOS«
- Studie »Vertical Farming«