Website-Icon Fraunhofer IAO – BLOG

Krankenstand ist kein Schicksal: Was Unternehmen für mehr Mitarbeitendengesundheit tun können

Feinfühlige Technik – Blogreihe des Teams »Applied Neurocognitive Systems«
Im Zeitalter von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz nimmt die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine eine Schlüsselrolle ein. Neuroadaptive Technologien versprechen große Potenziale sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis. Im NeuroLab des Fraunhofer IAO arbeiten die Wissenschaftler*innen an der Schnittstelle zwischen kognitiver Neurowissenschaft, positiver Psychologie und künstlicher Intelligenz. Unser Ziel ist es, die zunehmende Intelligenz und den steigenden Grad an Autonomie technischer Systeme konsequent auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Menschen auszurichten.

Der Krankenstand in Deutschland hat 2023 einen neuen Rekord erreicht. Atemwegserkrankungen, muskuloskelettale Beschwerden und psychische Probleme sind die Hauptgründe für Fehlzeiten. Mit durchschnittlich 20 Fehltagen pro Mitarbeitendem und einem Gesamtkrankenstand von 5,5 Prozent treffen die wirtschaftlichen Auswirkungen von Fehlständen viele Unternehmen empfindlich. Doch Fehltage sind kein Schicksal – es gibt Instrumente, mit denen Unternehmen die Mitarbeitendengesundheit aktiv erhalten können.

Die steigenden Krankmeldungen beeinträchtigen nicht nur die Produktivität, sondern belasten auch die Mitarbeitenden, denn wo (Wo-)Manpower fehlt, müssen andere einspringen. Und das zusätzlich zum bereits hohen Belastungsniveau der Arbeitnehmenden.

Doch wie kann ein niedrigerer Krankenstand erreicht werden, wenn man nicht genau weiß, welche Probleme und Bedürfnisse die Mitarbeitenden haben? Und wenn man nicht genau weiß, wo man ansetzen soll? Forschung aus dem Fraunhofer IAO könnte hier helfen, genauer – Forschung aus der Psychologie und Neurowissenschaft.

Wie kann psychologische Forschung helfen Gesundheitsmaßnahmen passgenauer umzusetzen?

Fehlzeiten z. B. aufgrund psychischer Probleme sind inzwischen unter den Top 3 Gründen zu finden und bringen auch die längste Fehlzeitendauer mit sich – im Schnitt 47 Tage. Psychologische Ansätze zur Gesundheitsprävention könnten Unternehmen also einen mächtigen Hebel zur Reduktion von Fehlzeiten liefern – doch die Realität in den Betrieben sieht oft anders aus: Betriebliches Gesundheitsmanagement ist sehr wichtig und versucht, Probleme durch Angebote wie Vorträge oder Seminare zu adressieren, z. B. zu Rückengesundheit, Achtsamkeit oder Stressmanagement. Die Angebote sind zwar hilfreich aber oftmals einmalig oder über einen kurzen Zeitraum. Danach wird erwartet und gehofft, dass die Teilnehmenden das Gelernte selbst umsetzen. Wenige Firmen erfassen methodisch sauber, ob ein Angebot erfolgreich war (auch im Längsschnitt) und ob die Bedarfe und Wünsche adressiert wurden. Doch genau das ist nötig, um Passgenauigkeit zu erreichen.

Durch eine effektive Bedarfs- und Erfolgsmessung könnte sowohl qualitativ als auch v. a. quantitativ festgestellt werden, ob die eingesetzten Maßnahmen wirken. Zusätzlich zur Bedarfs- und Erfolgsmessung könnte man mittels hochfrequentem Testen (das sogenannte ecological momentary assessment [ESM]) Arbeitsplätze und -tätigkeiten genauer analysieren und herausfinden, welcher Arbeitsplatz wie und wann besonders belastet. Beim ESM werden über einen längeren Zeitraum mehrfach am Tag eine oder mehrere Personen zu verschiedenen Aspekten befragt. Normalerweise werden kurze Fragebögenskalen benutzt, die über Tablets oder Smartphones beantwortet werden können. Durch die vielen Daten kann ein besseres Bild über einen gesamten Tagesverlauf erlangt werden als wenn einmalig retrospektiv danach gefragt wird.

Eine saubere Bestandsaufnahme ist bereits die halbe Miete, um passende Gesundheitsmaßnahmen abzuleiten. Und es gibt die Möglichkeit, diese Bestandsaufnahme noch besser und genauer zu gestalten – mit der Neurowissenschaft.

Inwieweit können die neuesten Entwicklungen der Neurowissenschaft noch genauere Vorhersagen über Belastungen bringen?

Nicht nur über Fragebögen sollten Pain Points erfasst werden. Es ist auch wichtig, die Reaktionen des Körpers zu berücksichtigen. Denn der Körper hat Auswirkungen auf unsere Psyche und andersherum. Schlechter Schlaf kann unsere Konzentration und Stimmung beeinflussen. Und eine hohe psychische Belastung kann man auch im Körper spüren durch z. B. Unruhe oder Magenschmerzen.

Neurowissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Die Sensorik wurde immer kleiner, günstiger, und auch außerhalb des Labors messgenau. Durch die Nutzung von Wearables können Privatpersonen mittlerweile kostengünstig Einblicke in ihren Körper und Alltag bekommen. Warum nutzen wir diese Möglichkeiten also nicht auch im beruflichen Kontext? Die mobile Technik kann im Berufsleben die Möglichkeit bieten Arbeitsplatzprofile zu erstellen und Stress bzw. Belastungsspitzen zu messen. Daraus können dann Ableitungen gemacht werden, wie Arbeitsprozesse anders gestaltet werden können, um die Belastung der Mitarbeitenden zu reduzieren. Genau darum geht es auch aktuell in einem Projekt von uns – proRotation – wo wir zusammen mit der Industrie eine beanspruchungsgerechte Jobrotationsplanung in Produktion und Logistik einführen, die auf den Belastungen und Beanspruchungen der Mitarbeitenden ausgerichtet ist. Hierbei nutzen wir nicht nur Befragungen der Personen, sondern erfassen auch Belastungsspitzen während der Arbeit mittels psychophysiologischer Parameter wie Puls, Herzratenvariabilität oder Schweißbildung. Am Ende entsteht ein genaueres Belastungsprofil der Arbeitsplätze und es kann eine Jobrotation abgeleitet werden, die Mitarbeitende entlastet. Das Projekt entsteht in Kooperation mit Datenschutzexperten und juristischer Expertise, sodass das System auch den hohen Ansprüchen der Datensouveränität und Sicherheit entspricht.

Zusammengefasst finden wir, dass es möglich ist, Gesundheitsmaßnahmen noch passgenauer zu gestalten, wenn man vorher genau weiß, was gebraucht wird und wo die Probleme liegen. Um das zu erreichen, braucht es aber verstärkt digitale Tools, die helfen, Daten zu sammeln (Fragebögen oder Wearable-Daten) und diese auch auszuwerten. Wir forschen u. a. genau daran und wollen mit unserer Expertise helfen, Arbeitsprozesse zu verbessern.

Wer sich noch mehr für das Thema interessiert, kann sich am 21. Februar 2024 bei unserer Veranstaltung »Sustainable Work & Life 2024« über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse informieren.

Leselinks:

Nektaria Tagalidou

Psychologin im Team »Applied Neurocognitive Systems«. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit neuroadaptiven Technologien zur Förderung von Gesundheit, Wohlbefinden und positiver UX. Für sie ist die Neurowissenschaft eine Chance unsere Arbeit und unseren Alltag angenehmer zu gestalten – ganz nach dem Motto: less stress!

Autorenprofil - Website - LinkedIn

Die mobile Version verlassen