Was tut man nicht alles, um up-to-date zu bleiben. Auf meinen Monitoren herrscht das Chaos. Auf dem einen reihen sich die offenen Browser-Tabs aneinander: Ein Dutzend verschiedener Webseiten der Europäischen Kommission wetteifern mit Projektseiten von CIRPASS, Battery-Pass und weiteren Initiativen zum Digitalen Produktpass (DPP) um meine Aufmerksamkeit, während sich auf dem anderen die ellenlangen PDFs der Gesetzestexte zu Ecodesign, Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz, Batterieverordnung und dem Green Deal langsam mit grünen Markierungen und Kommentaren füllen. Die Sekundärliteratur reicht von wissenschaftlichen Abhandlungen über die Auswirkungen des DPP bis hin zum aktuellen Fünfjahresplan der Volksrepublik China. Die übliche Härte also.

Unternehmen haben Fragen

Eine einfache Frage veranschaulicht das Problem ganz gut: Welche Daten soll der DPP eigentlich beinhalten? Das Projekt CIRPASS nennt in seiner Präsentation vom 13.12.2022 (natürlich nur als YouTube-Video verfügbar) einige »Beispiele potenzieller Attribute« mit keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Solche Attribute sollen produktgruppenspezifisch sein und umfassen »Beschreibung des Materials, der Komponente oder des Produkts«, »Recycelter Inhalt«, »Gefahrenstoffe«, »Umwelt-Fußabdruck«, »Leistungsklasse« und »Technische Parameter«. Genaueres soll über Sekundärgesetzgebung geklärt werden… aha.

In der EU-Ökodesign-Richtlinie Kapitel III Artikel 8 (2) wird auf Anhang 3 verwiesen. Dort angekommen findet man 11 Punkte, welche auf jeden Fall in einem DPP enthalten sein sollen. Diese haben jedoch größtenteils mit der eindeutigen Kennung des Produktes und sämtlicher involvierter Wirtschaftsteilnehmer zu tun – von den vorherigen Punkten von CIRPASS keine Spur. Super.

In der Attribute Longlist des deutschen Projekts Battery Passport findet man schon deutlich genauere Attribute. Hier werden 7 Attributkategorien bzw. 21 Subkategorien mit insgesamt 102 Attributen für einen Battery-Pass definiert, welcher verdächtig nach einem DPP für Akkus und Batterien klingt. Dem geneigten Leser zahlreicher Newsletter wird auffallen, dass dieses Projekt im Januar 2023 einen gemeinsamen Workshop mit CIRPASS abgehalten hat und auch sonst in der Szene gut vernetzt zu sein scheint. Könnten diese 102 Attribute also Aufschluss über die potenziellen Attribute anderer DPPs liefern?

Unternehmen wollen Antworten

Tatsache ist: Noch ist nichts endgültig entschieden – man weiß es einfach nicht. Das trägt aber wenig dazu bei, meinen Stresslevel zu senken. Unternehmen wollen Antworten – und das zu Recht. Entgegen der Vorstellung einiger Beamter in Brüssel ist das Erheben einiger dieser Attribute alles andere als trivial. Wer kann schon heute den CO2-Fußabdruck seines Produkts berechnen? Einige sicher. Aber auch für jede Produktvariante? Wie genau wird das am Ende eingefordert? Woher bekomme ich die Daten, wenn ich Komponenten von außerhalb der EU beziehe? Wer ist verantwortlich, wenn etwas am Ende nicht stimmt? Solche Fragen stellen mir Unternehmensvertreter regelmäßig, wenn ich einen Vortrag oder Workshop zu dem Thema halte. Das ist verständlich, denn die Antworten auf diese Fragen entscheidet darüber, wie man ein Unternehmen und insbesondere dessen digitale Infrastruktur über die nächsten Jahre hinweg weiterentwickeln muss. Die dafür notwendigen Daten zu erheben, erfordert in vielen Fällen die Einführung komplexer PDM/PLM- oder ERP-Systeme, oder die Anpassung entsprechender Prozesse innerhalb dieser Systeme. So etwas benötigt Zeit und Geld. Besonders KMUs können sich so etwas nicht leisten – schon gar nicht von heute auf morgen. Wenn aber auch nur ein Akteur entlang der Wertschöpfungskette ausfällt – wie kann dann das Gesamtsystem noch funktionieren?

Wer soll da durchblicken?

Also zurück zu den Dokumenten. Und am besten auch gleich zum Telefonhörer. Schließlich sind die Fraunhofer-Gesellschaft sowie die Deutsche Kommission Elektrotechnik (DKE) mit dem Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik (VDE) Teil des CIRPASS-Konsortiums. Auf diese Weise erhält man immerhin Aussagen, welche den Veröffentlichungen ein paar Wochen voraus sind. Aber auch die besten Expertinnen und Experten können nicht in die Zukunft sehen. CIRPASS2 soll im April 2024 beginnen und im Laufe von drei Jahren für drei Produktgruppen einen funktionstüchtigen DPP-Prototyp erstellen. Der Inhalt dieser Produktpässe soll von separaten Gremien festgelegt werden. Aber wissen diese wirklich, was sie überhaupt wollen?

Im Detail steckt der Teufel

Selbst wenn man eines der einfachsten Attribute hernimmt, welche im Battery Pass gefordert werden, kann es zu Fragen kommen. Nehmen wir zum Beispiel das Gewicht. »Welches Gewicht?« fragte mich in einem Workshop der Vertreter eines Unternehmens für Batterieladetechnik. »Wir haben das berechnete Gewicht aus dem CAD, das tatsächlich gewogene Gewicht aus der Produktion, das Gewicht mit Verpackung – unterschiedlich je nach Batchgröße…«. Ähnliche Fragen kann man sich zu vielen weiteren Attributen stellen, wenn man es darauf ankommen lässt und verschiedene Szenarien für die Einführung eines Digitalen Produktpasses einmal durchspielt. Mitarbeitende produzierender Unternehmen sind in den Projektkonsortien und Entscheidungsgremien der Europäischen Kommission bisher nicht vertreten. Das zeigt sich.

Was tun?

Bei all diesen Problemen jedoch geht oft unter, dass der DPP neben den besagten Herausforderungen auch eine Chance darstellen kann. Wenn man schon einmal gezwungen ist, diverse Daten entlang des Produktlebenszyklus‘ zu erheben, kann man diese auch für die Optimierung bestehender Prozesse und den Aufbau neuer Geschäftsmodelle nutzen. Es ist erstaunlich, auf welche Ideen findige Mitarbeitende kommen können, wenn man genug von ihnen mit Kaffee und Butterbrezeln in einen Raum sperrt. Tatsächlich scheint die Bereitschaft vieler Unternehmen groß zu sein, hier in den direkten Austausch miteinander zu gehen und gemeinsam an innovativen Lösungen zu arbeiten. Das zeigt sich darin, wie viele von ihnen inzwischen eigene Beauftragte für das Themengebiet Nachhaltigkeit und DPP abgestellt haben und wie gut besucht diesbezügliche Workshops und Netzwerktreffen bei Fraunhofer mittlerweile sind. Das Hauptziel der Teilnehmenden? Ganz vorne mit dabeibleiben und bloß nicht den Anschluss verlieren. Wenn dann auch noch jemand anderes für das Durchlesen der neusten Veröffentlichungen zuständig ist – umso besser. Im Austausch mit anderen Unternehmen, welche sich in der gleichen Lage befinden, lassen sich noch am ehesten robuste Szenarien entwickeln, wie man sich auf die Einführung des DPP vorbereiten kann und wie man mit den damit verbundenen Herausforderungen und Chancen am besten umgeht.
Was tut man nicht alles, um up-to-date zu bleiben!

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Adrian Barwasser

Adrian Barwasser ist ehemaliger Entwicklungsingenieur und nun Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IAO. Seine Begeisterung gilt der Produktentwicklung. Im Team »Digital Engineering« erforscht er Wege, wie sich im Zeitalter von Industrie 4.0 innovative Produkte entwickeln lassen.

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Kategorien: Advanced Systems Engineering (ASE), Innovation, Nachhaltigkeit
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