Doch was passiert, wenn diese Prozesse durch digitale Medien moderiert werden? Im Projekt INSTANCE² erforschen wir mit EEG, fNIRS und Eye-Tracking, wie sich neuronale Synchronie und Aufmerksamkeitsprozesse in realen, digitalen und immersiven Kontexten unterscheiden. Können unsere Erkenntnisse helfen, digitale Arbeitswelten effizient, sozial anschlussfähig und gesund zu gestalten?
Die social brain Hypothese – Evolution der sozialen Spezies Mensch
Die social brain Hypothese geht davon aus, dass sich unser Gehirn, vor allem die Regionen und Netzwerke im Neocortex, erweitert hat, weil das Leben in großen, kooperativen und dennoch wettbewerbsorientierten Gruppen dies erforderte. Nach dieser Ansicht entwickelte sich Intelligenz zunächst als Lösung für das »soziale Problem«, Verbündete, Rivalen und sich wandelnde Normen im Blick zu behalten. Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass ökologische Herausforderungen wie sich ändernde Umweltbedingungen und kulturelles Lernen wahrscheinlich eine ebenso wichtige Rolle gespielt haben, sodass die soziale Gehirnhypothese am besten als ein Teil eines größeren Puzzles betrachtet werden sollte.
Dennoch zeigt die Komplexität der neurophysiologischen Prozesse, die für soziale Interaktionen wie Zusammenarbeit erforderlich sind, dass die Voraussetzungen für effiziente Zusammenarbeit stetig über Jahrtausende durch die evolutionäre Erweiterung und Optimierung des Gehirns geschaffen wurden.
Aber was passiert in unserer modernen Welt, die immer neue soziologische Änderungen in immer größerer Geschwindigkeit präsentiert?
Gehirn-Netzwerke für soziale Interaktion und Zusammenarbeit
Um zu verstehen, wie moderne Arbeit effizient und gut gestaltet werden kann, sollte man sich darüber bewusst sein, wie das »soziale Gehirn« arbeitet. Wenn ich vom sozialen Gehirn spreche, meine ich damit eigentlich eine Reihe miteinander verbundener Regionen, die Netzwerke im gesamten (alten und neuen) Gehirn formen. Sie ermöglichen uns, andere zu verstehen, ihr Verhalten vorherzusagen und uns mit ihnen abzustimmen. Zu den wichtigsten Bereichen gehören:
- Präfrontaler Cortex: Planung, Entscheidungsfindung, Selbstkontrolle und soziale Normen.
- Temporo-parietaler Übergang: Schlussfolgerungen über die Gedanken und Gefühle anderer – eine Fähigkeit, die oft als »Theory of Mind« bezeichnet wird.
- Temporallappen: Verarbeitung von Sprache und Gesichtsausdrücken für inhaltliche und emotionale Verständigung.
- Zusammenschluss zu Netzwerken: Ermöglichen den Wechsel zwischen fokussierter Aufmerksamkeit auf die eigenen Gedanken und Pläne (dorsales Aufmerksamkeitsnetzwerk) und relevanten sozialen Hinweisen, die von anderen mitgeteilt werden (Salienz-Netzwerk).
Zusammen bilden diese Schaltkreise die neuronale Grundlage für unsere Fähigkeit, uns in der Komplexität menschlicher Beziehungen zurechtzufinden. Studien mit Hyperscanning (gleichzeitige Aufzeichnung mehrerer Gehirne) zeigen, dass sich die neuronalen Rhythmen von Menschen, die zusammenarbeiten, buchstäblich synchronisieren, insbesondere in Regionen, die mit der sozialen Kognition in Verbindung stehen. Die Rolle dieser Synchronisation zwischen zwei oder mehr Gehirnen für effektive und gute Zusammenarbeit ist Gegenstand aktueller Forschung.
Aber was passiert, wenn entscheidende Zusammenhänge zur Verarbeitung sozialer Signale im virtuellen Raum anders aussehen oder sogar fehlen?
Remote vs. Präsenz: Gibt es Unterschiede im Gehirn?
Diese Frage ist aktueller denn je – insbesondere angesichts des Trends zu Hybrid- und Remote-Arbeit. Im digitalen Zeitalter fehlen uns häufig die subtilen sozialen Signale, auf die wir in Präsenz reagieren würden. Genau hier setzt die Forschung an.
Im Projekt INSTANCE² untersuchen wir, wie sich Zusammenarbeit in verschiedenen Kontexten (real, digital, immersiv) neurophysiologisch unterscheidet. Durch die Kombination multimodaler Bildgebung (z. B. EEG, fNIRS) mit virtuellen Interaktionsräumen wollen wir herausfinden:
- Wie verändert sich neuronale Synchronie im digitalen Raum?
- Welche Hirnnetzwerke sind von den verschiedenen Kontexten wie stark beeinflusst?
- Wie lassen sich virtuelle Kollaborationsmedien gestalten, um Fokus und Verbindung zu fördern?
Die Ergebnisse fließen direkt in die Gestaltung effektiver und mental gesunder Formen der Zusammenarbeit ein.
Fazit: Was wir vom kollaborierenden Gehirn lernen können
Die Zusammenarbeit von morgen braucht ein tiefes Verständnis der neuronalen Prozesse, die sie ermöglichen. Heute wissen wir bereits: Erfolgreiche Zusammenarbeit zeigt sich im Gehirn durch spezifische Signale, etwa durch die Synchronisation neuronaler Rhythmen oder die Aktivierung zentraler Netzwerke für soziale Kognition, Aufmerksamkeit und Kommunikation.
Was wir noch nicht abschließend wissen: Wie verändern sich diese Prozesse, wenn Zusammenarbeit nicht im selben Raum, sondern über digitale Medien stattfindet? Genau hier setzt INSTANCE² an. Mit EEG, fNIRS und Eye-Tracking erforschen wir, ob und wie sich die Signale des »sozialen Gehirns« in realen, digitalen und immersiven Kontexten unterscheiden.
So schlagen wir eine Brücke zwischen Neurowissenschaft und Arbeitswelt – mit dem Ziel, digitale Kollaborationsformen zu entwickeln, die nicht nur effizient sind, sondern auch soziale Verbindung und mentale Gesundheit fördern.
Effektive Zusammenarbeit beginnt im Gehirn – und entscheidet über die Arbeitswelt von morgen.
Im Zeitalter von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz nimmt die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine eine Schlüsselrolle ein. Neuroadaptive Technologien versprechen große Potenziale sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis. Im NeuroLab des Fraunhofer IAO arbeiten die Wissenschaftler*innen an der Schnittstelle zwischen kognitiver Neurowissenschaft, positiver Psychologie und künstlicher Intelligenz. Unser Ziel ist es, die zunehmende Intelligenz und den steigenden Grad an Autonomie technischer Systeme konsequent auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Menschen auszurichten.
Leselinks:
- Blogbeitrag: Wie Hyperscanning verborgene Team-Dynamiken sichtbar macht
- Blogbeitrag: Von Herzschlägen bis zu Gehirnwellen: Die beeindruckende Vielfalt der Wearables – Teil 1: Sensorik
- INSTANCE Projekt Phase 2
- Alle Blogbeiträge des Teams »Applied Neurocognitive Systems«
- Applied Neurocognitive Systems Team des Fraunhofer IAO
Kategorien: Arbeitswelten (New Work, Connected Work), Virtuelle Welten, Zukunftstechnologien
Tags: Feinfühlige Technik - Blogreihe des Teams »Applied Neurocognitive Systems«, Hyperscanning, Neurowissenschaft, virtuelle Zusammenarbeit
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