Stellen wir uns vor, wir sind in einem selbstfahrenden Auto der Zukunft unterwegs. Das Auto hat weder Lenkrad noch Gaspedal. Während uns das Fahrzeug selbstständig zu unserem gewünschten Ziel fährt, können wir die Freizeit im Auto nutzen, um zu schlafen, zu essen, zu lesen oder auch zu arbeiten. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO forscht Audi im Rahmen des Projekts »25. Stunde« nach den idealen Arbeitsbedingungen im selbstfahrenden Auto. Für das Laborexperiment in Stuttgart baute der Autohersteller eigens einen Simulator für vollautomatisiertes Fahren – mit variablem Innenraum und ohne Lenkrad. Kathrin Pollmann und Dr. Mathias Vukelic aus der Abteilung Human-Computer Interaction und Neuroarbeitswissenschaft haben das Experiment im Vehicle Interaction Lab am Fraunhofer IAO durchgeführt.
Interview mit Kathrin Pollmann und Dr. Mathias Vukelic, Experten für Mensch-Computer-Interaktion beim Fraunhofer IAO. Zuerst erschienen auf http://audi-urban-future-initiative.com/blog/audi-is-researching-the-use-of-time-in-the-robot-car.
Grundlage für das Experiment ist die Annahme, dass Autos in Zukunft autonom fahren. Was genau haben Sie untersucht?
Mathias Vukelic: Wir haben im Auftrag von Audi den Innenraum eines selbstfahrenden Fahrzeugs evaluiert. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, wie das Interieur eines Autos den Menschen in Zukunft dabei unterstützen kann, während der Fahrt produktiv zu sein. Ganz konkret haben wir unter verschiedenen Bedingungen getestet, welche Parameter im Fahrzeug konzentrationsfördernd wirken.
Kathrin Pollmann: Dafür haben wir den Teilnehmern Konzentrationsaufgaben aus unserer Experimentalforschung gegeben. Sie mussten visuelle und auditorische Aufgaben lösen, während wir Geräusche und Sound, Licht und visuelle Reize verändert haben.
Wie sind Sie konkret vorgegangen? Wie muss ich mir den Versuchsaufbau vorstellen?
Kathrin Pollmann: Audi hat uns eine Art Simulator zur Verfügung gestellt, der automatisiertes Fahren durch großflächige Projektionen realitätsnah vermittelt. So konnten wir unsere Experimente unter sehr authentischen Bedingungen durchführen. In der Konstruktion konnten wir Umgebungslicht und Geräuschkulisse im Innen- und Außenraum variabel anpassen. Die Fensterscheiben ließen sich dimmen und über Displays konnten digitale Störreize erzeugt werden.
Mathias Vukelic: Dadurch waren wir in der Lage, unterschiedliche Modi zu generieren. Der Normalmodus war vergleichbar mit einer heute üblichen Fahrt auf einem Beifahrersitz im Auto. Im sogenannten Overload-Modus haben wir Störfaktoren durch zusätzliche digitale Reize erhöht, so wie wir es heute von den Smartphones kennen: mit eingehenden Nachrichten, Wettervorhersagen, zusätzlichen Sprachinformationen oder Breaking News. Diese wurden auf Displays in den Fensterscheiben angezeigt. Im dritten Modus, dem Konzentrationsmodus, haben wir ideale Bedingungen geschaffen, die angenehm und aktivierend wirken sollten: mit gedimmten Scheiben, beruhigender Hintergrundmusik und einem ausgeklügelten Lichtkonzept – auf digitale Störreize wurde ganz verzichtet.
Was und wie haben Sie genau gemessen?
Kathrin Pollmann: Wir haben verschiedene Parameter gemessen, um möglichst aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten. Dazu zählte auf der einen Seite eine direkte Befragung der Probanden zur subjektiven Bewertung der Aufgaben in den Kategorien Konzentration, Frustration, Aufmerksamkeit und Ablenkung. Darüber hinaus haben wir Verhaltensdaten anhand der Bearbeitungsqualität der Aufgaben – wie Fehlerquote und Schnelligkeit – gemessen. Eine weitere wichtige Messgröße war die Erhebung der physiologischen Daten mittels Elektroenzephalographie (EEG). Damit konnten wir sehen, wie viele Ressourcen zur Lösung der Aufgaben im Gehirn benötigt wurden. Als letztes haben wir auch noch die Messung der Hautleitfähigkeit (Schweißbildung auf der Hautoberfläche) durchgeführt, um die mögliche Stressanfälligkeit der Probanden zu testen. Insgesamt dauerten die Tests mit den visuellen und auditorischen Aufgaben pro Proband rund zwei Stunden.
Welche Ergebnisse haben die Experimente gezeigt?
Mathias Vukelic: Die Ergebnisse waren eindeutig. Sowohl die subjektive Befragung als auch die neurophysiologischen Verfahren (EEG) haben gezeigt, dass die Probanden bei konzentrationsfördernden Bedingungen weniger frustriert, abgelenkt oder angestrengt waren. Anhand der Messungen lässt sich eindeutig belegen, dass das menschliche Gehirn ohne störende Einflüsse leistungsfähiger ist und man auch im Auto einen idealen Zustand zum Arbeiten erreichen kann. Weiterhin stellte sich heraus, dass die Fokussierung der Versuchsteilnehmer bei der visuellen Aufgabe wesentlich stärker war. Bei der auditiven Aufgabe wurde ihre Aufmerksamkeit hingegen eher gestreut und sie ließen sich deutlich stärker von den Display-Einspielungen ablenken.
Was lässt sich aus den Ergebnissen für das Auto der Zukunft aus ihrer Perspektive ableiten?
Kathrin Pollmann: Unsere Experimente zeigen, dass man die Konzentration im Fahrzeug klar beeinflussen kann. So lassen sich zum Beispiel Arbeitsbedingungen schaffen, die vielleicht sogar noch besser sind als im Büro. Allerdings sollte dies mit einer starken Personalisierung der Konfiguration einhergehen, da jeder Mensch individuelle Gewohnheiten hat. Diese gilt es zu berücksichtigen. Für eine Premiummarke wie Audi könnte es interessant werden, ihren Kunden ein individualisiertes Interieur anzubieten. So lassen sich Störparameter herausfiltern und unterstützende Elemente perfekt einstellen, um ein möglichst perfektes Erlebnis zu schaffen.
Inwiefern sind Erkenntnisse aus anderen Bereichen des Fraunhofer IAO (zum Beispiel Studien wie Value of Time, Hotel der Zukunft, Arbeitsplatz der Zukunft) in das Experiment mit eingeflossen?
Kathrin Pollmann: Neben dem NeuroLab waren vor allem die Kollegen aus dem Visual Technologies Lab involviert. Während sich unser Human-Computer Interaction-Team auf den Versuchsaufbau, die Messtechnik und die Experimente konzentriert hat, haben die Kollegen das Lichtkonzept für den Simulator entwickelt. Dabei sind natürlich die Erfahrungen aus anderen Studien zum Thema Licht mit eingeflossen. So hat neben der Lichtfarbe auch die Veränderung der Helligkeit eine wichtige Rolle gespielt, um möglichst perfekte Bedingungen zu schaffen.
Sind die Ergebnisse repräsentativ? Wie ist die Anzahl von 30 Probanden zu bewerten?
Mathias Vukelic: Bei einem neuropsychologischen Experiment gibt es schon ab zwölf Personen belastbare Ergebnisse. In unserem Versuchsaufbau waren die Unterschiede sogar bereits bei zehn Personen zu erkennen. Die Effekte haben sich durch die weiteren Probanden nur erhöht. Damit ist zu erwarten, dass selbst bei Tests mit weiteren Teilnehmern ähnliche Ergebnisse erzielt werden. Da wir in dem Experiment verschiedene Messverfahren angewendet haben und uns nicht nur auf eine subjektive Befragung verlassen haben, haben die Aussagen trotz der geringen Anzahl eine deutlich höhere Aussagekraft, als man sie beispielsweise von statistischen Umfragen her kennt.
Gab es für die Probanden besondere Auswahlkriterien?
Kathrin Pollmann: Die Homogenität der Gruppe erleichtert die Messungen, weil die Werte vergleichbarer werden. Gerade die Hirnaktivität unterscheidet sich von Person zu Person und verändert sich mit dem Alter. Wir haben uns deshalb für eine Gruppe im Alter zwischen 18 und 45 Jahren entschieden. Darüber hinaus war die Verteilung nach Geschlecht ausgewogen und die Probanden offen gegenüber neuen Themen und Technologien, wie zum Beispiel dem autonomen Fahren.
Sie hatten von Audi einen sehr futuristischen, ungewöhnlicher Fahrsimulator: Lassen die Messungen wirklich Rückschlüsse auf eine Nachtfahrt im Robotertaxi zu?
Mathias Vukelic: Der Simulator war tatsächlich sehr realistisch. Das Panorama der Stadt ist mit den Projektoren sehr gut simuliert worden, das Erlebnis war immersiv. Die Probanden hatten schnell das Gefühl, dass sie tatsächlich autonom durch eine Stadt fahren. Allerdings war unsere Stadtfahrt relativ langsam, denn Simulatoren sind anfällig für »motion sickness«, also Übelkeit durch die Bewegung. Deshalb ist unser »Fahrzeug« in einem sehr ruhigen, abendlichen Verkehrsfluss unterwegs gewesen.
Audi ist mit dieser Forschungsanfrage auf Sie zugekommen, wie wichtig sind solche Impulse der Wirtschaft für Ihre Forschung?
Kathrin Pollmann: Wir arbeiten schon immer eng mit Unternehmen zusammen und verstehen uns als Schnittstelle zwischen Forschung und Wirtschaft. Unser Ziel ist immer, unsere Forschungsergebnisse auch in der Realität anzuwenden. Allerdings war diese Studie durch den Simulator von Audi schon sehr besonders. Normalerweise arbeiten wir in Laborumgebungen, die eher einem klassischen Arbeitsplatz ähneln. Hier konnten wir nicht nur eine realistische Situation simulieren, sondern diese auch evaluieren. Für uns war es auch ein Erfolg zu sehen, dass unsere neurophysiologischen Messverfahren und Anwendungen auch in einem solchen sehr komplexen Szenario gut funktionieren.
Mathias Vukelic: Die Zusammenarbeit mit Audi war ein sehr gutes Beispiel für eine konkrete Forschungsfrage mit großer praktischer Relevanz. Durch den Simulator war das Experiment sehr konkret und in seiner Form einzigartig.
Laborexperiment im Audi-Simulator für autonomes Fahren
Über das Projektteam am Fraunhofer IAO
Für das Laborexperiment im Rahmen des Audi-Projekts „Die 25. Stunde“ hat am Fraunhofer IAO ein interdisziplinäres Forschungsteam abteilungs- und fachübergreifend zusammen gearbeitet:
- Mobilität- und Stadtsystemgestaltung: Projektleitung und -koordination
- Engineering- Systeme: Lichtkonzept, Fraunhofer Vehicle Interaction Lab
- Mensch-Technik-Interaktion: Studienkonzeption- und design, (neuro-)physiologischer Versuchsaufbau, Datenanalyse und Studienauswertung
Diese Art der Zusammenarbeit und Realisierung systemischer Fragestellungen zeichnet das Fraunhofer IAO als Institut der interdisziplinären und angewandten Forschung aus.
Leselinks:
- Neurolab: Labor für Neuroarbeitswissenschaft
- Vehicle Interaction Lab: Immersiver Fahrsimulator
- Forschungsfelder Mobilitäts- und Stadtsystemgestaltung
Kategorien: Future Mobility, Mensch-Technik-Interaktion
Tags: autonomes Fahren, HCI, Human-Computer Interaction, Mensch-Computer-Interaktion, Mensch-Technik-Interaktion, Neurowissenschaft, Usability