Staatliche Hightech-Förderprogramme, Entwicklungsabteilungen der Konzerne oder die Labors im Silicon Valley gelten als die Triebkräfte neuer Ideen und Ansätze für Wirtschaft und Gesellschaft. Für die Weiterentwicklung unserer Städte und kommunalen Gesellschaften fehlt ihnen jedoch ein wesentlicher Zusatz: Urbane Innovationen müssen auf die lokalen sozialen Voraussetzungen abgestimmt, sozial vermittelbar und -wirksam sein. Kinderstadtteilforschung ist ein Beispiel, wie vom Ansatz her versucht wird, soziale Innovation zu beobachten, zu verstehen und anzuregen – im Kleinen, niedrigschwellig und lokal.

Do-it-yourself-Gesundheitsschutz: Feinstaubmess-Sensoren und Mooswände in Stuttgart

Stuttgart ist deutschlandweit geradezu zu einem Synonym für Feinstaubbelastung geworden. Die große Umwelt-Debatte arbeitet sich an den gesetzlichen Rahmenbedingungen ab (Stichwort: »Dieselfahrverbot«), die Jahre brauchen dürften, bis eine verbindliche und stabile Regelung erzielt wird, die akzeptiert wird – falls sie erzielt wird. In dieser Zeit sind Kinder die Hauptleidtragenden der Luftverschmutzung, da Feinstaub nah am Boden und damit nahe an den Atemwegen der Kinder am höchsten konzentriert ist.

Deshalb haben sich Nachwuchsforscher beim Aktionstag in der Reihe Kinderstadtteilforschung nicht mit den abstrakten Debatten, sondern mit konkreten Lösungen für ihren urbanen Lebensraum beschäftigt. Die Schwabschule in Stuttgart-West ist von der Lage her auf der einen Seite begrenzt von einem verkehrsberuhigten Bereich und von dem Park »Elisabethenanlage«. Auf den anderen Seiten ist sie eingehegt von 12 Autofahrbahnen, 12 Ampeln und 2 U-Bahngleisen sowie unzähligen Verkehrsschildern. Durch diesen »Kokon« haben die Schulkinder hochgerechnet 115 000 Schulwegstrecken pro Jahr zu bewältigen, die niemand besser kennt als sie selbst. An einem Tag mit Inversionswetterlage, typisch für Stuttgart im Winterhalbjahr, stellten sich einige Kinder die Frage, ob der Grenzwert für gesunde Luft nicht nur an der deutschlandweit bekannten Messstelle »Neckartor« überschritten würde, sondern auch dort zu messen, wo sie selbst täglich lernen und leben.

Innovieren mit Moos, Sensortechnik und Spaß

Die Kinder der Schwabschule setzten sich am Aktionstag das Ziel, eigene Messstationen zu bauen und selbst Wege zu finden, wie das Stadtklima konkret und für jedermann umsetzbar verbessert werden kann. Zuerst erfolgte ein Grundlagen-Briefing zum Thema Luft, Feinstaub und Moos.

Dann starteten die Kinder ins Praxisprojekt, angeleitet von Wissenschaftlern des Fraunhofer IAO und ausgerüstet mit vielfältigen Zutaten, starteten mehrere Projektgruppen ihre Arbeit: Kleinplatinenrechner mit WLAN-Chip, Dupont- und USB-Kabel, Netzteile, 3G-Internetmodemrouter, Temperatur- und Luftfeuchtigkeit-Sensoren, Feinstaubmesssensoren aus Fernost, Damenstrümpfen, Abwasser-Rohrbögen sowie mit Moosen aus dem Schönbuch und Pflanzschalen aus dem Baumarkt.

Feinstaubmessbox fertig © Projekt Kinderstadtteilforschung
Selbstgemalter Schaltplan © Projekt Kinderstadtteilforschung
In der Werkstatt © Projekt Kinderstadtteilforschung
Vater und Kind bauen einen Sensor © Projekt Kinderstadtteilforschung
Sensor in Teilen © Projekt Kinderstadtteilforschung
Mooswand basteln allein… © Projekt Kinderstadtteilforschung
… und im Team © Projekt Kinderstadtteilforschung
Mooswand fertig © Projekt Kinderstadtteilforschung

Digitales Fazit: Auch wenn diese Sensoren keine offiziell zertifizierten Messstationen sind, so ermöglichen sie es den Bürgern doch einzuschätzen, wie die Feinstaubbelastung vor Ort und nicht irgendwo sonst ist.

Analoges Fazit: Auch mit einer Mär in Bezug auf die Nutzung und Gestaltung von Spielplätzen kann aufgeräumt werden: Kinder wünschen sich nicht vollgestellte Spiel-Plätze mit immer neuen Spielgadgets und bunten Gerüsten, sondern Orte mit Aufenthaltsqualität und Platz zur Verwirklichung. Also statt der x-ten Rutschbahn eher soziale Räume mit Büschen, Höhlen, Picknick-Gelegenheiten sowie flexible Sitz- und Spielmöbel.

Résumé: Soziale Innovation in Smart Cities und in der Bildung

Die gesamte Projektreihe »Kinderstadtteilforschung« verknüpft interdisziplinär Sozialarbeit, Politische Bildung und Demokratiepädagogik, neue Bürgerbeteiligung und MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) plus konkrete Mobilitäts- und städtebauliche Entwicklungsaspekte. Dazu wird »Citizen Science«-Forschung (mit Kindern statt über Kinder) und die Idee, die Stadt als Reallabor zu sehen, verbunden. Die Kinder lernen, wie sie ernst zu nehmender Teil von fairen Beteiligungsprozessen werden und sich selbstwirksam an der Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelt beteiligen können. Sie werden erzogen zu aktiven und demokratisch kompetenten Bürgern (keine »Wutbürger«), die kulturelle Identifikation mit der Wohn- und Lebenswelt wird gefördert und die im Werden befindliche Stadt der Zukunft kann durch ihr Wissen ein kleines bisschen klüger werden.

Alle Beteiligten sind überzeugt, dass die Schwabschule als Modellprojekt Schule machen wird. Bildungspolitiker und -forscher können uns für weitere Informationen einfach anrufen. Der Weg ist das Ziel.

Danksagung

Danke an alle Forscherkinder fürs Mitmachen. Danke an Martina Joos (Projektleiterin) und Yasemin Mengüllüoglu (Hausleitung) und alle anderen beteiligten Sozialpädagogen vom Caritasverband für Stuttgart e.V. für die hervorragende Projektierung. Danke an den Elternbeiratsvorsitzenden Martin Schick und weitere Papas die halfen. Danke an OK Lab Stuttgart, dass wir in Bezug auf die Open Data Feinstaubmessung als »Citizen Scientists« mitmachen dürfen. Danke an meinen Arbeitgeber Fraunhofer IAO für die Unterstützung. Sowie danke an alle Bürgerinnen und Bürger, Organisationen und Verwaltungen, mit denen wir bislang in Interaktion getreten sind.

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