Städte waren schon immer Orte des Verkehrs. Die ersten Siedlungen bildeten sich entweder an strategisch wichtigen Orten oder an Wegkreuzungen. Entlang der technischen Evolution beschleunigten sich das Reisen und der Informationsaustausch zwischen Städten über Pferdetrams, Eisenbahn, Telegrafie, U-Bahnen, Automobil und Busse. Man kann offen zugeben, dass die meisten unserer heutigen Mobilitätslösungen in ihrem grundsätzlichen Prinzip aus dem 19. Jahrhundert stammen: Die Eisenbahn wurde 1829 »pilotiert«, die U-Bahn 1863 und das Automobil 1886. Meilensteine wie die Charta von Athen haben in der Nutzungstrennung der städtischen Funktionen eine tiefsitzende Logik etabliert, die mit den Herausforderungen im 21. Jahrhundert schwer vereinbar scheint. Heutige Städte nutzen Systeme und Infrastrukturen, die auf teilweise veralteten Technologien basieren und äußerst schwerfällig sind, wenn es um Anpassungsfähigkeit, Erweiterbarkeit und Transformation geht. Fragen Sie beispielsweise die Betreiber der New York Subway zur Zukunftsperspektive angesichts erwarteter Modernisierungs- und Betriebskosten (Tipp: e-Bay spielt bei der Beschaffung von Ersatzteilen bereits eine gewisse Rolle).

Die Kunst, die Stadt von morgen vorauszudenken

Wir stehen damit an der Schwelle zu einer neuen urbanen Ära im Zeitalter der Digitalisierung. Um den großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu begegnen, müssen wir Stadtsysteme gestalten, die innovativ, flexibel, lebenswert und nachhaltig sind. Städte und Stadtquartiere werden in unserer Vision der Smart City, der Morgenstadt, kaum mehr Emissionen oder Abfall erzeugen, maximale Lebensqualität für alle ihre Bewohner ermöglichen, maximal resilient gegenüber erwarteten und unerwarteten Veränderungen sein und durch nachhaltige Innovation gezielt Wohlstand, Inklusion und Fortschritt sichern. Heutige Pilot- und Umsetzungsprojekte müssen Demonstratoren dieses neuen Stadtprinzips der vernetzten und innovativen Stadt von morgen sein und zukunftsweisende Systeme und Technologien von der Konzeptions- bis zur Betriebsphase integrieren (siehe Forschungsfeld: Smart Districts).

Szenario 1: Weiter wie bisher in kleinen Schritten…

Den Stadtverkehr von übermorgen können wir in verschiedenen Szenarien denken: Wir können entweder versuchen, so lange es geht die heutigen Systeme und Angebote in Betrieb zu halten und die Wirtschaftlichkeit unter Nachhaltigkeitsaspekten zu optimieren. Wir können Wege finden, die Betriebskosten zu minimieren, die CO2-Bilanz entlang den europäischen Vorgaben sukzessive zu verbessern und das alte Leitbild der »Stadt der kurzen Wege« und der intermodalen Reiseketten weiterhin zur tragfähigen Maxime zu erklären. Um uns herum kann sich die Welt weiterentwickeln, klassische Produktionsbranchen wie die Automobilwirtschaft können sich radikal verändern, die Umweltbedingungen oder Rohstoffverfügbarkeiten können disruptiven Sprüngen ausgesetzt sein und erste Städte außerhalb Deutschlands oder Europas könnten die Vorteile automatisierter, emissionsfreier und vernetzter Mobilitätsflotten erkennen und eine neue Standortattraktivität darauf aufbauen (Wer wohnt schon gerne in einer luftverschmutzten Innenstadt?). Die Bedürfnisse und Werte der nächsten Generation könnten andere sein als unsere. Nicht zuletzt deshalb kann die Verschiebung von physischen Prozessen in den digitalen Raum unser bisheriges Prinzip von Stadt – auch im Hinblick auf die Veränderungsfähigkeit von umbautem Raum – langsam aber sicher unter extremen Handlungsdruck setzen.

Szenario 2: Stadtverkehr um den Menschen neu denken…

Alternativ können wir gemeinsam den Stadtverkehr der Zukunft – unter Berücksichtigung aller interner und externer Wandlungstreiber – vorausdenken und prototypisch umsetzen, nicht nur über die nächsten Jahre, sondern mindestens bis zur Mitte dieses Jahrhunderts. Wir können verstehen, dass neue Mobilitätstechnologien in Verbindung mit einer antizipativen und vor allem resilienten Stadtplanung neue Strukturprinzipien ermöglichen, die nicht das Automobil in das Zentrum der gebauten Stadt, sondern den Menschen in den Mittelpunkt einer neu zu »programmierenden« Stadt stellen. Wir könnten erkennen, dass bis zu 20 Prozent unserer Stadtflächen asphaltiert sind und nur eine einzige Funktion besitzen. Neue Mobilitätssysteme hingegen machen die Stadt für alle Gesellschaftsgruppen besser erreichbar und benötigen dabei viel geringere Straßenquerschnitte und viel weniger Stellflächen für »Stehzeuge«.

Die Vision »50:50« – Verkehrsflächen halbieren durch Mobilitätswandel!

Hierzu schlage ich die Vision »50:50« vor: Damit meine ich das strategische Ziel, dass wir in historisch gewachsenen europäischen Städten für die oben beschriebene Mobilität bis ins Jahr 2050 nur noch die Hälfte unserer heutigen Flächen für fließenden und ruhenden Verkehr benötigen, dabei aber gleichzeitig die Leistung der verfügbaren Mobilität verdoppeln. Dabei werden Straßen anders als heute eben nicht als hochfrequentierte Verkehrsschneisen die Stadt zerteilen, sondern eine neue Qualität im öffentlichen Raum und vor allem Durchlässigkeit sowie Verkehrssicherheit für Fuß- und Radverkehr ohne Kollisionen ermöglichen. All dies sind mögliche Bestandteile einer autonomen, gemeinschaftlichen und vernetzten Mobilität, die als neues Betriebssystem der »Smart City« von übermorgen funktionieren könnte.

Beispiel München 2050: 27 Quadratkilometer mehr Fläche für urbane Qualität

Wenn man dies an einem konkreten Beispiel wie der Stadt München anwendet, der aktuell viertgrößten und am dichtesten besiedelten Großstadt in Deutschland, ergibt sich nach ersten Analysen eine mögliche Aktivierung bzw. »Zurückgewinnung« von städtischen Flächen von rechnerisch 26,92 Quadratkilometern. Diese können perspektivisch als Grünflächen (z.B. für Luftreinigung), Wasserflächen (z.B. für adiabatische Kühlung), Freiflächen (z.B. für öffentliche Plätze) oder auch temporäre Gebäude und bauliche Strukturen genutzt werden. Nur als Gedankenspiel: Eine reine Nutzung eines solchen Flächenpotenzials als Bauland entspräche dort nach marktüblichen Grundstückspreisen einem Wert von über 38 Milliarden Euro – Tendenz steigend, da der Stadt München bereits in weniger als zehn Jahren die strategischen Flächenreserven ausgehen werden.

Nach Jahrzehnten der automobilen Verkehrsplanung wird es also Zeit für eine echte Vision zum Stadtverkehr von übermorgen! Was denken Sie?

Steffen Braun ist Mitglied des Expertenbeirats zum BBSR-Forschungsprojekts „Stadtverkehr von übermorgen“ und stellvertretende Geschäftsfeldleitung im Geschäftsfeld „Mobilitäts- und Stadtsystem-Gestaltung“ (MUSE) am Fraunhofer IAO.

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Steffen Braun

Zukunftsstadtgestalter und Geschäftsfeldleiter/Institutsdirektor am Fraunhofer IAO. Er ist Mitbegründer der Morgenstadt-Initiative und forscht mit seinen Kollegen intensiv daran, wie die Stadt von morgen aussehen kann und wie sie unser Leben und Arbeiten verändern wird.

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Kategorien: Stadtentwicklung
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