Letzte Woche habe ich einen Blogbeitrag zu meinem Fazit des Experimentierraums Selbstorganisation bei der AOK Baden-Württemberg verfasst. Heute habe ich Gelegenheit, ein Mitglied des »Gelingerteams«, Marcus Bischoff, zu seiner persönlichen Perspektive auf diesen Experimentierraum zu befragen.

Marcus, die AOK ist jetzt nicht unbedingt das erste Unternehmen, das man mit ungewöhnlichen, ergebnisoffenen Organisationsexperimenten in Verbindung bringt. Was war euer wichtigster Antrieb?

Nicht nur Führungskräfte sind »Mangelware«, weil begehrt und auch übergeordnet benötigt, auch und vor allem der allgemeine Fachkräftemangel – im Sinne von Mitarbeitenden, die fachlich kompetent und interessiert an Gestaltung und Entwicklung sowie Verantwortungsübernahme sind – war und ist ein Motor für unsere Motivation, in Modelle wie Selbstorganisation zu investieren. Wie sonst soll die Freude an Verantwortungsübernahme und damit Gestaltungsmöglichkeit vermittelt werden, wenn nicht durch das eigene Erleben? Aber es braucht Mut auf beiden Seiten – bei den Führungskräften, die Entwicklungen zulassen und damit wertschätzend umgehen und bei den Mitarbeitenden, die sich unter Umständen auch selbst eingestehen müssen, wo ihre Grenzen sind.

Für wie übertragbar hältst du das Konzept der Selbstorganisation?

Was uns am Anfang sehr schnell klar wurde ist, dass wir natürlich nicht das »Start-up« aus Berlin-Mitte sind und auch nicht werden. Wir sind ein Unternehmen mit einem klaren gesetzlichen Auftrag und langen Traditionen in klassischer Auf- und Ablauforganisation. Gleichzeitig sind wir Dienstleister und uns sind Kundenbedürfnisse besonders wichtig. Viele Prinzipien der Selbstorganisation in Reinkultur waren nicht einfach so anwendbar bzw. wären nicht übertragbar gewesen. Den eigenen Weg für unser Unternehmen zur passenden Selbstorganisation zu suchen und zu finden, war aus meiner Sicht ein Schwerpunkt der Arbeit des Experimentierraums.

Was sind die wesentlichen Mehrwerte des Experiments aus deiner Sicht für die AOK Baden-Württemberg?

Selbst- und Eigenverantwortung ist für unser Unternehmen ein relativ neuer bzw. wiederentdeckter Wert. Unser Experimentierfeld hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet – weg vom Sachbearbeitenden (im fixen »Orgakästchen« mit seiner »Zuständigkeit«) hin zum Mitarbeitenden mit klarer Ergebnis- und Prozessorientierung. Hier kann und soll auch noch einiges mehr passieren. Ein wesentlicher Gewinn ist auch die Stärkung der Identifikation der Mitarbeitenden mit dem Team und dem Unternehmen und den eigenen Aufgaben. Auch das Vertrauen und die Zuversicht: »Wir bekommen das hin!«. Und nicht zuletzt die Loyalität. All das war und ist es uns wert, um weiterhin auf das Prinzip der Selbstorganisation zu setzen – und mittelfristig werden auch wirtschaftlich verbesserte Ergebnisse erzielt werden. Weil wir an diesen Werten wachsen und das Ergebnis nicht (immer) heilig ist.

Was ist wichtig, um einen Experimentierraum in einer Organisation wie deiner umzusetzen?

Vielleicht nur drei, aber dafür wesentliche Dinge:

  1. 1. Leitplanken – speziell in unserer »traditionsreichen« Organisation sind diese wichtig, um die Mitarbeitenden immer wieder zu fordern und zu fördern, aber auch um Sicherheit zu gewinnen, um das Neue anzugehen. Zu schnell gäbe es ansonsten einen Rückfall in alte Muster. Hier war es wichtig, dass die Mitarbeitenden sich die Leitplanken selbst erarbeitet haben und wir nur moderierend tätig waren. So wurde z.B. selbständig die Frage »Homeoffice – wie machen wir das fair und ergebnisorientiert?« diskutiert und beantwortet. Weil das noch vor der erzwungenen Homeoffice-Phase durch Corona war, konnten später auch andere Teams davon profitieren, weil bereits Antworten und Erfahrungen weitergegeben werden konnten.
  2. 2. Orientierung – beispielsweise durch einen ständigen methodischen Austausch, indem Fragen diskutiert und beantwortet werden: Was sind die nächsten Schritte? Was ist als nächstes zu tun? Warum machen wir das so? Darf das auch schief gehen? Was geschieht, wenn es uns gelingt? Nicht zu weit nach vorne gedacht, um nicht zu theoretisch zu werden, aber eben weit genug, um Sinn und Orientierung zu stiften. Wichtig ist aber auch hier – das Team muss die Fragen stellen und Antworten suchen.
  3. 3. Verständnis und Verstehen – unsere Mitarbeitende sind absolute Spitzenklasse. Aber sie sind keine Superhelden. So fehlten beispielsweise Kenntnisse im Organisationsmanagement oder in der methodischen Konfliktbewältigung bzw. auch Erfahrungen aus anderen Unternehmen. Wir haben im »Gelinger-Team« versucht, dies zu erkennen und immer wieder Impulse zu setzen, ohne dabei einzugreifen oder in den alten Trott von Command und Control zurückzufallen. Geduld war und ist gefragt. Nicht einfach!

Marcus, du warst ja Teil dieses »Gelinger-Teams«. Wie würdest du dessen Aufgaben und Funktionen beschreiben?

Das »Gelinger-Team« war für den Gesamterfolg ziemlich wichtig. Es hat unterstützt, aber nicht direktiv eingegriffen. Ohne diese Firewall hätten wir schnell aufgegeben. Bis zum Ende des Experimentierraums sind wir uns hier mit dem Motto »Bereitstellung von Leitplanken, Orientierung und Verständnis sowie Verstehen, aber keine Vorgaben machen« treu geblieben. Vielleicht ist es unsere Antwort auf Command und Control bzw. der logische Schritt, um davon wegzukommen. Loslassen und zulassen war für uns sicher die größte Herausforderung.

Es klingt, als hättest du Spaß am Experimentieren entwickelt. Was ist die nächste Baustelle, die du angehen willst?

Als nächstes sollten wir uns dem Prinzip der Stärkenorientierung nähern. Es sind eben nicht alle Teammitglieder gleich, sondern jedes bringt, auch innerhalb eines homogenen Arbeitsgebietes, nun einmal individuelle Stärken ein. Dies anzuerkennen, auszusprechen und diese Differenzierung nicht als »Ungleichheit« oder gar »Ungerechtigkeit« zu interpretieren, ist ein wesentlicher Entwicklungsschritt. Wenn jedes Teammitglied sich seiner Stärken bewusst ist, diese in seinem Aufgabengebiet optimal einsetzen darf und wenn die Stärken aller Teammitglieder vernetzt werden, müsste in der Konsequenz eine Verbesserung an den noch offenen Wunden der Selbstorganisation beispielsweise in Bezug auf Qualitätsorientierung, Konfliktmanagement und etc. entstehen. Eigene Stärken kennen, die der anderen anerkennen und sich gegenseitig durch Feedback im Wachstum zu unterstützen – das wäre aus meiner Sicht optimal. Aber auch hier gilt: Wir setzen den Impuls, haben das Team entscheiden lassen, gehen gemeinsam durch diesen Entwicklungsprozess und schauen, was wird. Und am Ende wird es gut und wenn es nicht gut ist, dann ist es nicht das Ende.

Marcus Bischoff ist »Geschäftsbereichsleiter Markt der AOK – Die Gesundheitskasse Nordschwarzwald« und war im Experimentierraum Selbstorganisation Teil des sogenannten »Gelingerteams«.

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Josephine Hofmann

Leitet das Team »Zusammenarbeit und Führung« und forscht zum Thema Führungskonzepte und flexible Arbeitsformen. Bloggt am liebsten im Zug und nach inspirierenden Veranstaltungen und Begegnungen.

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