»Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns
Vor uns liegen die Mühen der Ebene«

So lauten die beiden letzten Zeilen aus Bertold Brechts Epigramm »Wahrnehmung«. Der konkrete Kontext, auf den sich Brechts vielzitierter Satz im Jahr 1949 bezog, war ein anderer als heute, 2021. Und dennoch galt damals wie heute: der Sieg einer Idee macht noch keine Veränderung. Die Bewährungsprobe des Neuen ist die Überwindung vieler kleiner und großer Schwierigkeiten bei der Umsetzung im Alltag.

Im Frühjahr des zweiten Jahres der Pandemie sieht es so aus, als ob die Mühen des Gebirges bald hinter uns liegen. Es wird viel rund um eine neue Normalität, eine bessere Normalität in der Arbeitswelt diskutiert. Die Zahlen im Corona-Ticker gehen zurück, die Impfquote steigt und damit die Zuversicht. Zuversicht, dass die andauernde Ausnahmesituation bald vorbei ist, Zuversicht, dass bald alles wieder normal wird. Verständlich und gut, solange damit nicht gemeint ist, dass alles wie vorher wird. Denn die Krise hat unter anderem gezeigt, wie groß unser Rückstand bei der Digitalisierung ist, auch bei mittelständischen und kleinen Unternehmen. Ja, die Corona-Pandemie hat zwangsläufig zu vielen, mehr oder weniger erfolgreichen, Experimenten nachholender Digitalisierung geführt. Ob diese Experimente nachhaltig wirken und auch ohne Krise in der nötigen Dynamik vorangetrieben und zu einer neuen, besseren Normalität werden, wird zu beweisen sein, und zu gestalten, in dem wir die Mühen der Ebene nicht scheuen, sondern praktisch angehen.

Viel Debatte, aber (noch) wenig Umsetzung im Mittelstand

Eine unserer Studien am Fraunhofer IAO (2019 ) zeigt, dass sich 25 Prozent der mittelständischen Unternehmen noch gar nicht mit der Thematik der Künstlichen Intelligenz befassen und erst 16 Prozent eine solche im Einsatz haben. Dazwischen liegen Unternehmen, die sich für die Thematik sensibilisieren, teilweise bis zur konkreten Projektkonzeption. Ebenfalls ernüchternde Zahlen weist eine ZEW-Studie im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums von 2020 aus. Diese kommt zu dem Ergebnis, dass nur etwa 6 Prozent der Unternehmen (produzierendes Gewerbe und überwiegend unternehmensorientierte Dienstleistungen) im Jahr 2019 KI in Produkten, Dienstleistungen oder internen Prozessen einsetzen. Es zeigen sich auch deutliche Unterschiede der Nutzung von KI hinsichtlich der Unternehmensgröße, insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen hinken hinterher (siehe Leselinks).

KI-Ambition als Treiber für die Realisierung von Digitalisierung nutzen

Die Betrachtung der eigenen Arbeitsprozesse zum Ausgangspunkt für Digitalisierung mit und ohne Künstliche Intelligenz zu nehmen, ist naheliegend, realistisch und sinnvoll: denn es sind die Arbeitsprozesse, die sowohl die Ziele des Unternehmens als auch das konkrete Arbeitshandeln abbilden. Hier liegt ein Reservoir an realem Wissen und ein Potenzial an Akzeptanz, das auf dem Weg der digitalen Transformation erschlossen werden sollte.

Aus einem kürzlich abgeschlossenen Projekt zu Künstlicher Intelligenz in der Sachbearbeitung, »SmartAIwork« (siehe Leselink) haben wir vier zentrale Erkenntnisse formuliert (ab Juli als Studie verfügbar):

  1. (1) Eine positive Transformationsspirale setzen Sie in Unternehmen in Gang, wenn Sie bei Maßnahmen zur Digitalisierung und KI die Orientierung am Arbeitsziel in konkreten, gelebten Arbeitsprozessen in den Mittelpunkt stellen. Dabei sind die Automatisierung von Tätigkeiten, also Maschinen arbeiten statt des Menschen, und die Augmentierung von Tätigkeiten, also Maschinen arbeiten mit Menschen in symbiotischer Interaktion, nicht getrennt, sondern zusammen zu denken.

  2. (2) Digitale Transformation nachhaltig gestalten gelingt nicht mit Strategien des »entweder-oder«, sondern mit einem »sowohl-als auch«. Arbeit der Zukunft ist eine symbiotische Interaktion von Mensch und Maschine. Die Maschinen erhalten Akteur-Status, Orientierung erfolgt am Begriff der Tätigkeiten. Im Mittelpunkt stehen die Integration der Leistungen von Mensch und von Maschinen und die Organisation von Prozessen wechselseitigen Mensch-Maschine-Lernens in der Arbeitspraxis zum gegenseitigen Vorteil.

  3. (3) Auf dem Weg zu digitalen Lösungen mit und ohne KI liegt eine große Herausforderung darin, Lock-Ins in alten Mustern als Bremsen zu erkennen und zu lösen. Dies betrifft auf der Ebene der Technologien und technologischen Infrastrukturen den Umgang mit »Altbauten« und »Altdaten«, auf der Ebene der Prozesse die Reflektion und Renovierung gewohnter Praktiken und Abhängigkeiten und auf der Ebene der Tätigkeiten Fragen der Arbeitsteilung, der Rollen, der Kompetenzen und des Lernens.

  4. (4) Die Einführung Künstlicher Intelligenz ist mit einer gewissen »Mystik« und mit mehr Besorgnis oder gar Angst behaftet, als dies bei der Entstehung und Verbreitung anderer Technologien der Fall war. Erklären lässt sich das mit dem Grad an Autonomie, der KI als lernendem System zugerechnet wird und ihrem Potenzial, sich autonom weiterzuentwickeln. Hinzu kommt, dass KI immer mit der Vorbereitung und Unterstützung – und immer öfter auch mit der Ausführung – von Entscheidungen zu tun hat. Entscheidungen, die häufig den Menschen betreffen. Die gute Nachricht ist, dass die Debatte um KI-Ethik intensiv und verantwortungsbewusst geführt wird und Chancen zeigt: Erstens arbeitet Forschung und Entwicklung daran, die Einbettung von ethische Anforderungen in die Technologieentwicklung selbst voranzugtreiben. Zweitens können Unternehmen sehr operativ die Einbettung von KI-Ethik durch organisatorische Maßnahmen zur Abbildung und Realisierung von Werten, Regeln und Gebräuchen im jeweiligen Kontext gewährleisten.

Zuerst den ersten Schritt tun: Angebot zur Zusammenarbeit im »Hausaufgabenkreis-Prozess für digitale Transformation«

Für den Zusammenhang zwischen Digitalisierung und KI gilt, der zweite Schritt kann nicht vor dem ersten gemacht werden. Künstliche Intelligenz lernt aus großen, gepflegten Datenbeständen und trägt dazu bei, Entscheidungen in präzise beschriebenen Arbeitskontexten vorzubereiten und (ggf.) zu treffen. KI-Einführung braucht digitale Daten und digitale Prozesse. Und hier sind wir wieder bei den Mühen der Ebenen. Wie weit sind Sie mit Ihrer Digitalisierung? Haben Sie Digitalisierung als Hausaufgabe erkannt – und gemacht?

Realistische Bestandsandaufnahmen heute für morgen.
Abbildung 1: Realistische Bestandsandaufnahmen heute für morgen. (© Fraunhofer IAO)

 

»Hausaufgaben« ist kein Begriff, der vom Hocker reißt. Aber es ist ein ehrlicher Begriff. Deshalb laden wir zusammen mit dem Business Innovation Engineering Center (BIEC) Unternehmen aus Baden-Württemberg ein, sich von Juni bis Dezember 2021 in einem Hausaufgabenkreis zur realistischen Bestandsaufnahme konkreten Prozesswissens für Ihre Digitalisierungsprojekte zu engagieren (vgl. Leselinks). Mit sechs bis acht Teilnehmenden wollen wir einen Prozesskatalog zusammentragen, die für alle interessanten Prozesse zur exemplarischen Bearbeitung auswählen, IST-Zustände abbilden, Prozessmodellierung und Wissensmanagement verknüpfen, gemeinsam reflektieren, von und miteinander lernen und Ansatzpunkte für verbesserte digitale SOLL-Prozesse entwickeln. Wenn es gelingt, über die Pilotierung, die wir anbieten können, hinaus eine stabilen Austauschkreis zu bilden, umso besser. Wenn Sie nicht in Baden-Württemberg ansässig sind, melden Sie sich gerne, um weitere Möglichkeiten zu sondieren.

»Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns
Vor uns liegen die Mühen der Ebene«

Die ersten Zeilen des Epigramms heißen übrigens:

»Als ich wiederkehrte
War mein Haar noch nicht grau
Da war ich froh.«

Wenn wir alle jetzt dann aus dem Lock-Down, der Bundesnotbremse wiederkehren, sind hoffentlich auch noch nicht alle Haare grau aber einige Lerneffekte und, vielleicht ungewöhnliche, Handlungsimpulse entstanden und über die akute Krise hinaus wirksam: Hausaufgaben machen, zusammenwirken. Von den Dakota-Indianern, manchmal auch afrikanischen Quellen zugeschrieben, ist das Sprichwort überliefert: »Wenn Du schnell gehen willst, gehe alleine. Wenn Du weit kommen willst, gehe zusammen«. Gehen Sie weit.

Leselinks:



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