Mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Thema Arbeitszeiterfassung am 14. Mai 2019 ist erneut großer Schwung in die Debatte um die zukunftsfähige Gestaltung der Arbeitswelt gekommen. Zurzeit, so mein Eindruck, geht es Schlag auf Schlag: Erst die Initiative der SPD für die gesetzliche Verankerung eines Rechts auf Home Office, dann die Debatte um die Durchsetzung von Mindestlöhnen bei Paketzustellern, jetzt die Ankündigung des Arbeitsministeriums, die gestrige Entscheidung des EuGH bis Jahresende in angemessener Form umzusetzen. Die Positionen sind bereits öffentlich bezogen: Einerseits der Verweis auf die Legitimität des Ziels, geleistete Arbeit auch vergütet zu bekommen – wofür die nachvollziehbare Aufzeichnung als ein wesentliches Hilfsmittel zur Durchsetzung dieses Anspruchs bewertet wird. Auf der anderen Seite die Position, angesichts zunehmend flexibilisierter Arbeitsformen und veränderter Tätigkeitsinhalte Schwierigkeiten damit zu haben, Arbeitsleistung in gestempelte, minutengenau festgelegte Zeiteinheiten zu packen und Arbeits- bzw. Anwesenheitszeit gleichförmig mit Leistung gleichzusetzen.

Stirbt jetzt die Vertrauensarbeitszeit?

Kippt jetzt das Modell der Vertrauensarbeitszeit? Müssen, wie heute im Morgenmagazin der ARD treffend formuliert, die Mitarbeiter in den Start-ups vor dem Daily Scrum jetzt erstmal an der Stechuhr vorbei, sich einstempeln und für die Auszeit am obligaten Tischkicker wieder ausstempeln, obwohl man bisher auf die Protokollierung der Arbeitszeit verzichtet hat? Müssen dann auch praktizierte Formen der Arbeitszeiterfassung im Kontext der mobilen Arbeit verändert werden? Ist die dort vielfach verwendete, pragmatisch gelöste »Blockerfassung«, in der z.B. wöchentlich nacherfasst wird »habe diese Woche 15 Stunden mobil gearbeitet« (ohne Angabe von Anfangs- und Endzeitpunkten), dann noch erlaubt? Wie passt das Ziel der strengen Dokumentation von Arbeitsstunden zum Bild von Arbeitnehmern, die den eigenen Arbeitstag sowohl örtlich als auch zeitlich und zu einem guten Teil auch inhaltlich selbst ausgestalten,festlegen und tagesindividuell Phasen der Erwerbsarbeit sehr flexibel mit privat orientierten Tätigkeiten abwechseln, also Entgrenzung praktizieren? Passen »Vertrauensarbeitsort« und »Vertrauensarbeitszeit« als Sinnbilder individueller Flexibilität der Arbeitsausübung zu einer minutiösen Protokollierung, und ist diese überhaupt technisch praktikabel?

Die Flexibilisierung von Arbeit ist ein ungebrochener Trend…

…der häufig genug gerade auch im Hinblick auf arbeitnehmerseitige Interessen begründet wird. So ist das Angebot z.B. flexibler Arbeitsorte heutzutage ein wichtiges Element, die Arbeitgeberattraktivität zu steigern. Immer mehr Unternehmen bieten diese Möglichkeiten und verstärken gemeinsam mit der gleichzeitig möglichen zeitlichen Flexibilisierung (durch die Abschaffung von Kernarbeitszeiten oder großzügige Gleitzeitregelungen) die Individualisierung der täglichen Arbeitsgestaltung. Dabei stellt schon jetzt das geltende Arbeitszeitgesetz eine als einschränkend empfundene Rahmenbedingung dar. Vor allem die gesetzlich erforderliche Ruhezeit zwischen Arbeitsbeendigung und -aufnahme von 11 Stunden gerät angesichts verbreitet genutzter mobiler Endgeräte vielfach zur breit verletzten Vorschrift, die doch im besten Sinne des Schutzes der Erholung der Arbeitnehmer entwickelt wurde. Wer wartet schon 11 Stunden ab, nachdem er nachts um halb zehn die E-Mail des Chefs beantwortet hat, bevor er wieder im Büro erscheint? Dies führt zu einer ganz grundlegenden Frage die auch im Kontext der jetzt geforderten Erfassung wieder sehr aktuell wird:

Wann fängt Arbeit an?

Oder anders gefragt: Wann ist die Unterbrechung einer Ruhezeit nach Feierabend so erheblich, dass von einer Arbeitsaufnahme mit der dann geforderten Protokollierungspflicht gesprochen werden kann? Ist die kurze Terminbestätigung auf dem iPhone, der kreative Gedankengang unter der Dusche etwas, das zeitlich »angerechnet« werden kann, und wenn ja, mit wie vielen Zeiteinheiten?

Entspricht eine investierte Einheit Arbeitszeit einem eindeutig definierbaren Output?

Neben Fragen der »Mindestlänge« und damit der Protokollierungswürdigkeit von Arbeit entstehen andere Herausforderungen: Gerade bei hochgradig wissensintensiven Tätigkeiten ohne direkten materiellen, zählbaren Output fällt es schwer, dem zeitlichen Input von Arbeit eine eindeutig zu quantifizierende Leistung gegenüberzustellen. Oder gar die Leistungen zweier Kollegen in der gleichen Gehaltsgruppe auch wirklich gerecht ins Verhältnis zu setzen. Nicht ohne Grund wird ja gerade in diesen Kontexten vielfach von der notwendigen Ergebnisorientierung in der Bewertung von Arbeitsleistung gesprochen und zu entsprechenden Führungsinstrumenten geraten. Wo physische Anwesenheit oder z.B. das Sitzen vor einem Rechner nicht automatisch mit zählbaren Arbeitsergebnissen in Verbindung gebracht werden kann (und zusätzlich wegen ortsmobiler Arbeit auch gar nicht mehr kontrolliert werden kann), soll zu anderen Steuerungsinstrumenten gegriffen werden. Nicht selten verbunden mit dem Hinweis, dass hierzu ein »Loslassen« der Führungskräfte, ein großes Maß an gegenseitigem Vertrauen und eine Abkehr von der Präsenzorientierung notwendig sei.

Hilfskonstrukt Ergebnisorientierung versus Messeinheit Zeit

Interessanterweise aber wird genau diese Ergebnisorientierung in der praktischen Umsetzung gerade in wissensorientierten Tätigkeitsgebieten vor große Herausforderungen gestellt. Neben den genannten Themen des Vertrauens und des »Loslassens« sind diese vor allem methodischer Art. Denn den hier erarbeiteten Leistungen kann zumeist kein eindeutig abschätzbarer Zeitbedarf gegenübergestellt werden, und die „»Fertig«-Bedingung ist oft gar nicht so einfach zu definieren. Wann ist die Vorstandsvorlage, der Projektbericht, die Aktennotiz, der Strategieentwurf eigentlich »fertig«? Wieviel Zeit darf man dafür brauchen, und wie berücksichtigt man dann noch die Unterschiedlichkeit der Mitarbeitenden in deren individuellen Stärken und Arbeitsgeschwindigkeiten? Diese Unsicherheiten bestehen für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber bzw. Führungskräfte gleichermaßen.

Aber: abhängig Beschäftigte schulden Arbeitszeit als Gegenleistung zum Gehalt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger

Denn sonst wären sie Werkverträgler oder externe Dienstleister und damit nicht mehr abhängig Beschäftigte. Womit wir wieder bei der durchaus nachvollziehbaren Begründungslogik des EuGH angekommen wären. Das ist das Grundprinzip abhängiger Beschäftigung, wenn auch leistungsorientierte Vergütungsbestandteile dieses Grundprinzip ergänzen. Und so bleibt festzustellen: Der Arbeitnehmer stellt seine Arbeitszeit zur Verfügung, für die er vom Arbeitgeber finanziell entlohnt wird. So gesehen ergibt auch die Protokollierung ganz grundsätzlich Sinn. Aber wir sehen uns gleichzeitig vor der Situation, dass gerade zunehmende Selbstbestimmung, Wissensintensität und Individualität der Arbeitserbringung die Kontrolle über diese verbrachte Arbeitszeit und die Operationalisierung der dabei erzeugbaren »Gegenleistung« schwieriger machen, andererseits andere zuverlässige Maßeinheiten für die Arbeitswelt in der digitalen Transformation noch nicht breit verlässlich verfügbar sind.

Wohlverstanden: Geleistete Arbeit muss entlohnt werden. Aber unsere Arbeitswelt braucht neue und breit akzeptierte, von den Beteiligten und Sozialpartnern geteilte und gemeinsam gestaltete Vorgehensweisen, Arbeitsleistung und deren Bezahlung gerecht zu operationalisieren und umsetzbar zu machen. Ich bin gespannt, welche Vorschläge in der Folge der gestrigen Gerichtsentscheidung gemacht werden und freue mich auf Ihre Ideen und Kommentare dazu hier im IAO-Blog. Arbeitswissenschaftlich und aus Perspektive des Performance Managements besteht ein erheblicher Entwicklungsbedarf.

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Josephine Hofmann

Leitet das Team »Zusammenarbeit und Führung« und forscht zum Thema Führungskonzepte und flexible Arbeitsformen. Bloggt am liebsten im Zug und nach inspirierenden Veranstaltungen und Begegnungen.

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