Feinfühlige Technik – Blogreihe des Teams »Applied Neurocognitive Systems«
Im Zeitalter von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz nimmt die Gestaltung der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine eine Schlüsselrolle ein. Neuroadaptive Technologien versprechen große Potenziale sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis. Im NeuroLab des Fraunhofer IAO arbeiten die Wissenschaftler*innen an der Schnittstelle zwischen kognitiver Neurowissenschaft, positiver Psychologie und künstlicher Intelligenz. Unser Ziel ist es, die zunehmende Intelligenz und den steigenden Grad an Autonomie technischer Systeme konsequent auf die Fähigkeiten und Bedürfnisse des Menschen auszurichten.

In unserer Arbeitswelt wird physische Arbeit immer mehr von mentaler Arbeit abgelöst, die fortschreitende Digitalisierung und die Einführung von KI-Technologien werden zu bestimmenden Faktoren. Diese Entwicklungen führen zu einer immer schnelleren Arbeitsweise und nahezu ständiger Verfügbarkeit. Verstärkt durch die Corona-Pandemie werden flexibles und mobiles Arbeiten zunehmend wichtiger für viele Beschäftigte. Doch die scheinbare Entlastung durch neue Technologien könnte sich zu einer neuen Dimension von Stress und Überlastung entpuppen. Gefordert sind nachhaltige Ansätze, um »unser flexibelstes und stärkstes Organ« – das menschliche Gehirn – zu entlasten und ihm die bestmögliche Unterstützung zu bieten.

Im Mittelpunkt neuer Arbeitskonzepte steht das Ziel, nicht nur die Flexibilität und Selbstbestimmung der Arbeit zu steigern, sondern auch die kognitiven und emotionalen Anforderungen der Arbeitnehmenden optimal zu gestalten. Die Art der Arbeit bestimmt, wie eine unterstützende Arbeitsumgebung aussehen sollte: Bei der sogenannten »Deep Work« (Arbeiten ohne Ablenkung) ist es essentiell, Ruhe und Gestaltungsfreiheit zu haben, um anspruchsvolle Aufgaben tiefgehend bearbeiten zu können.

Die Art der Arbeit erfordert unterschiedliche Arbeitsumgebungen

Marta, eine passionierte Informatikerin, hat ihr Homeoffice zu einer Oase für Deep Work umgestaltet. Dort, umgeben von Ruhe und einem persönlich gestalteten Arbeitsraum, kann sie sich voll und ganz auf die Entwicklung komplexer Algorithmen für neue Softwareanwendungen konzentrieren. Diese Art der Arbeit erfordert nicht nur technisches Know-how, sondern vor allem ungeteilte Aufmerksamkeit und intensives Denken.
Im Kontrast dazu erlebt Julia, eine Vertriebsleiterin, oft das sogenannte »Shallow Work« (oberflächliches Arbeiten) während ihrer flexiblen mobilen Arbeitsphasen. Dabei handelt es sich um vergleichsweise einfache Aufgaben, die schnell gelöst werden können: Zwischen Meetings und Kundenbesuchen bearbeitet sie schnelllebige Aufgaben wie das Beantworten von E-Mails, das Schreiben kurzer Berichte und das Lösen alltäglicher Herausforderungen. Diese Tätigkeiten sind notwendig und halten den Arbeitsfluss aufrecht, fordern jedoch weniger kognitive Tiefe.
Wie beeinflussen kognitive Prozesse wie das Arbeitsgedächtnis, Flow oder die Aufmerksamkeit die Fähigkeit, in den Zustand von Deep Work oder Shallow Work einzutauchen?

Kognitive Ressourcen optimal nutzen: Ein Blick durch die Brille der Kognitions- und Neurowissenschaften

Die Kognitionspsychologie und Neurowissenschaften helfen uns, das Arbeitsgedächtnis und die Aufmerksamkeit besser zu verstehen – zwei kognitive Prozesse, die eine wesentliche Rolle in diesen Arbeitsarten spielen. Um ihre Interaktion besser zu verstehen, beziehen wir uns auf zwei wesentliche Theorien: die Limited Resource Theory und die Selective Processing Theory.
Die Limited Resource Theory besagt, dass Arbeitsgedächtnis und Aufmerksamkeit aus einem gemeinsamen Pool von kognitiven Ressourcen schöpfen. Stellen Sie sich vor, Ihr Gehirn verfügt über einen Energievorrat, ähnlich einem Akku. Jede Aufgabe, die Sie ausführen, verbraucht einen Teil dieser Energie. Komplexe Aufgaben, wie die Planung eines Projekts oder das Lösen von Problemen, verbrauchen mehr Energie als einfachere Aufgaben wie das Erinnern an eine Einkaufsliste. Wenn viele anspruchsvolle Aufgaben gleichzeitig erledigt werden müssen, kann es passieren, dass der »Akku« schnell leer ist, da die Aufmerksamkeitsressourcen überbeansprucht werden. Dies führt zu Ermüdung und nachlassender Leistung. Diese Theorie hilft zu erklären, warum wir uns manchmal überwältigt fühlen, wenn wir versuchen, zu viele Dinge auf einmal zu erledigen.
Die Selective Processing Theory konzentriert sich darauf, wie wir aus der Menge an Informationen, die auf uns einströmen, auswählen und diese verarbeiten. Nehmen wir an, Sie sitzen in einem belebten Café und arbeiten an Ihrem Laptop. Ihr Gehirn muss entscheiden, welche Umgebungsreize Ihre Aufmerksamkeit erfordern (zum Beispiel die Person, die Sie auf Ihren Kaffee hinweist) und welche ignoriert werden können (zum Beispiel das Gespräch am Nachbartisch). Diese Theorie erklärt, wie unser Gehirn lernt, sich auf wichtige Informationen zu konzentrieren und Störungen zu minimieren, etwa durch das Filtern von irrelevanten Informationen aus dem Arbeitsgedächtnis. Dies ist besonders nützlich, wenn wir versuchen, in einer ablenkenden Umgebung Deep Work zu verrichten. Beide Theorien verdeutlichen, warum bestimmte Arbeitsumgebungen und -methoden, wie die Gestaltung von ruhigen und geordneten Arbeitsplätzen oder die Praxis des asynchronen Arbeitens, dazu beitragen können, die kognitiven Lasten zu minimieren und uns zu ermöglichen, unsere besten Leistungen zu erbringen. Diese Einsichten sind nicht nur für Forschende aus der Psychologie und der Neurowissenschaft von Interesse, sondern auch für jeden, der seinen Arbeitsalltag effizienter und zufriedener gestalten möchte.

Die Vermessung des Flows: Spielend zur Spitzenleistung

Durch diese beiden Theorien lässt sich nun eine Brücke zum Phänomen des Flows schlagen. Flow kann uns in einen Zustand der völligen Hingabe versetzen – eine tiefgehende Immersion, gepaart mit intensiver Konzentration, ein Moment, in dem die Zeit stillzustehen scheint und wir vollkommen in unserer Tätigkeit aufgehen. Wenn die Schwierigkeit einer Aufgabe unsere Fähigkeiten herausfordert, ohne sie zu übersteigen, erreichen wir diesen Flow-Zustand, der als äußerst befriedigend empfunden wird. Doch wie lässt sich ein so komplexes Phänomen messen? Unsere Studie liefert spannende Antworten.
Mit einem innovativen Ansatz haben wir die Tiefe des individuellen Flow-Erlebens empirisch erfasst. Unser Team nutzte ein neuroergonomisches Paradigma, indem wir ein eigens entworfenes Videospiel mit der Präzision der Elektroenzephalografie (EEG) kombinierten. Wir variierten die Schwierigkeit des Spiels für jede Testperson individuell und provozierten so Zustände von Unterforderung, Überforderung und Flow, was die Arbeitsgedächtnisbelastung beeinflusste. Durch eine geschickte Gestaltung des Paradigmas in einem spielerischen Rahmen konnten wir Flow-Erlebnisse im Gehirn der Teilnehmenden sichtbar machen, ohne sie aus ihrem Erleben herauszureißen. Statt auf klassische Experimentalknöpfe zu drücken, zählten die Spielerinnen und Spieler seltene Töne – eine Methode, die ihre Aufmerksamkeit auf die Probe stellte, während sie im Spiel vertieft waren.
Die Resultate unserer Studie offenbaren, dass sich die Gehirnreaktionen auf unerwartete Töne – sogenannte Oddballs – während des Flows veränderten. Besonders in den späten Phasen der auditiven Aufmerksamkeit, reflektiert in den ereigniskorrelierten Potenzialen (EKPs) und sichtbar im grün schraffierten Bereich der Grafik, zeigten sich signifikante Unterschiede. In unserem Fall führte Flow zu einer verringerten Amplitude bei der Wahrnehmung dieser Töne, was darauf hindeutet, dass die Teilnehmenden ihre Aufmerksamkeit erfolgreich fokussierten und irrelevante Reize ausblendeten.

Prototypisches ereigniskorreliertes Potenzial (EKP) © Fraunhofer IAO

Prototypisches ereigniskorreliertes Potenzial (EKP)

Zu sehen ist ein prototypisches ereigniskorreliertes Potenzial (EKP) gemessen über EEG-Positionen im hinteren Bereich des Kopfes (parietale Elektroden). EKPs sind messbare Reaktionen des Gehirns auf spezifische sensorische Reize. Sie werden mittels EEG aufgezeichnet und zeigen die elektrische Aktivität des Gehirns in Form von Wellen, die auf ein bestimmtes Ereignis, wie zum Beispiel ein akustisches Signal, folgen. Zeitpunkt null entspricht dem Start des auditiven Tons. In einer Abfolge von positiven und negativen Gipfeln zeigen sich zeitlich aufeinanderfolgende Verarbeitungsschritte im Gehirn. Deutlich zu sehen sind Unterschiede im sog. P300 (positiver Ausschlag ~250-650 ms). EKP-Amplituden im Vergleich:

  • Unterforderung (Blau): Nach einem akustischen Signal erreicht die EEG-Amplitude ihren Höhepunkt im Bereich von 350-600 ms (P300 ist sichtbar).
  • Überforderung (Grün): Spielt die Testperson unter suboptimalen Bedingungen, ist die P300-Amplitude reduziert.
  • Optimale Bedingungen (Lila): Beim Spielen unter optimalen Bedingungen, die den Flow-Zustand charakterisieren, ist keine P300-Amplitude erkennbar.

Im Fluss der Arbeit: Wie Flow-Zustände unsere Produktivität transformieren

Stress und Überbelastung sind allgegenwärtige Phänomene unserer Zeit, die unser Gehirn und Nervensystem maßgeblich negativ beeinflussen können. Doch wie können wir in einer Arbeitswelt, die uns ständig an unsere Grenzen bringt, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit bewahren? Unser Team setzt auf innovative Ansätze aus den Neurowissenschaften und der Künstlichen Intelligenz, um maßgeschneiderte und belastungsorientierte Lösungen in Unternehmen zu ermöglichen und so das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit nachhaltig zu fördern.
In unserer Entdeckungsreise durch die Welt der Neuro- und Kognitionswissenschaften haben wir gesehen, wie essentiell das Arbeitsgedächtnis und die Aufmerksamkeit für Deep Work und Shallow Work sind. Unsere jüngsten Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir Technologien haben, Flow durch objektive Messungen zu identifizieren und zu klassifizieren – einen Zustand, der für Deep Work essenziell ist. Durch den Einsatz von Neurotechnologien können wir zukünftig in der Lage sein, Arbeitsumgebungen gezielt so zu gestalten, dass sie das Engagement und Wohlbefinden steigern. Diese Fortschritte werden den Weg ebnen für eine Arbeitswelt, die es uns ermöglicht, unsere kognitiven Ressourcen so zu nutzen, dass wir uns häufiger im Flow-Zustand befinden – eine direkte Gegenmaßnahme gegen die Fragmentierung der Aufmerksamkeit, wie sie für Shallow Work charakteristisch ist.
Es ist der komplexe Zusammenhang zwischen Arbeitsgedächtnis und -belastung und Aufmerksamkeit, der Flow zu einem Schutzmechanismus avancieren lässt. In Momenten des Flows sinkt die Ablenkbarkeit, während unsere Aufmerksamkeit die Arbeitsgedächtnisressourcen effektiv auf die relevanten Informationen fokussiert. Diese Schutzfunktion von Flow trägt wesentlich zur Förderung der psychischen Gesundheit und Produktivität bei. Wenn wir diesen Zusammenhang verstehen, eröffnen sich neue Perspektiven für das Design von Bildungsinhalten und die Arbeitsplatzgestaltung: Ein Arbeitsumfeld, das Flow-Zustände fördert, ist nicht nur produktiver, sondern vor allem gesünder. Die Reflexion über die vorangegangenen Abschnitte zeigt, dass ein tiefes Verständnis von Flow und seinen Auswirkungen die Grundlage für die Entwicklung effektiver Arbeitsmethoden bildet. Diese Methoden können uns helfen, persönlich und beruflich zu wachsen, indem sie eine Arbeitskultur fördern, die psychische Gesundheit und Wohlbefinden ebenso schätzt wie Spitzenleistungen. In einer solchen Zukunft könnten wir lernen, Flow nicht nur zu erleben, sondern auch bewusst zu gestalten.

Falls Sie Interesse haben, unser Team persönlich kennenzulernen und mit uns im Rahmen von interessanten Projekten zusammen zu arbeiten, kommen Sie gern direkt auf uns zu!

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Mathias Vukelic

Dr. Mathias Vukelić leitet das Team »Applied Neurocognitive Systems«. In seiner Forschung widmet er sich der Frage, wie digitale Technologien und intelligente Mensch-Maschine-Schnittstellen gestaltet sein müssen, damit Nutzer*innen besser mit Informationen umgehen können – also besser lernen oder bessere Entscheidungen fällen können. Konkrete Herausforderungen und Fragestellungen für ihn sind dabei, wie hoch die kognitive Belastung ist oder gar welche Rolle Emotionen im Umgang mit Technik spielen.

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Kategorien: Innovation, Mensch-Technik-Interaktion
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