In vielen Unternehmen wird der betriebliche Alltag durch intransparente Prozesse, unerklärliche Fehler und explodierende indirekte Kosten empfindlich gestört.

Einfache Lösungsversuche scheitern in der Regel; die Ursache für die Schwierigkeiten ist die Komplexität, die Betrieben durch die modernen Markteinflüsse aufgezwungen wird:

  • Dynamik: Durch globalen Wettbewerb steigen Innovations- und Veränderungsgeschwindigkeit in allen betrieblichen Bereichen.
  • Varianz: Mit der explodierenden Vielfalt von Produkten, Abläufen und Technologien nimmt die Übersicht ab und die Unsicherheit von Prognosen wächst.
  • Emergenz: Erschwerend kommt hinzu, dass Unternehmensbereiche und Mitarbeiter sich nicht immer streng an Vorgaben halten, sondern sich teilweise nach eigenem Ermessen optimieren.

Wie können Unternehmen die zunehmende Komplexität bewältigen? Wo müssen notwendige Veränderungen ansetzen? Diese Fragen möchte ich am Beispiel der Fertigungssteuerung untersuchen, denn hier wird ungeeignetes Komplexitätsmanagement schonungslos offen gelegt.

Klassische Fertigungssteuerung: Wie die Spinne im Netz
Bei der traditionellen Fertigungssteuerung nach dem Push-Prinzip handelt es sich um ein zentrales, deterministisches System. Wie bei einer Spinne in ihrem Netz laufen alle Fäden in einem Planungsbereich zusammen, von dort wird das Netz aufgebaut, im Detail gesteuert und umfassend kontrolliert. Die zentralen Bereiche versuchen, ausgehend von einem bekannten Zustand der Fertigung, den weiteren Ablauf der Ereignisse zu ermitteln und entsprechend zu planen. Die Wirklichkeit wird durch Berechnungsvorschriften und Regelwerke vereinfacht. Im Gegensatz zum Spinnennetz handelt es sich beim Unternehmen aber nicht um ein einfaches, mechanisches Gebilde, sondern um einen komplexen Vorgang mit zahllosen nicht berechenbaren Einflussgrößen. Vereinfachte Regelwerke bilden diese Komplexität nicht genau genug ab und werden zur Fehlerquelle. Andererseits sind umfassende Regelwerke, die alles berücksichtigen, nicht denkbar, zumindest aber wären sie mit einem nicht leistbaren Aufwand verbunden. Push-Systeme schaffen keine funktionierende Planung, sondern die Illusion davon:

  • Der Ausgangszustand ist keineswegs ausreichend bekannt. Die zugrunde liegende Materialbedarfsplanung basiert auf Prognosen, Stücklisten stimmen nicht immer, und die hochkomplizierten Bedarfsrechnungen sind fehleranfällig.
  • Ausreichend genaue Vorhersagen über zukünftige Zustände der Fertigung sind nicht möglich.
  • Um die Programmierung und Datenhaltung beherrschbar zu machen, müssen steuerungsrelevante Aspekte unzulässig vereinfacht werden (z.B. unbegrenzte Personalkapazitäten).
  • Der Ablauf der Ereignisse ist kaum vorhersagbar. Eine Fertigung stellt aus komplexitätstheoretischer Sicht ein chaotisches System dar. Das heisst, dass die Vorhersagbarkeit eng begrenzt ist und üblicherweise exponentiell mit der Zeit abnimmt.

Zentrale, deterministische Systeme, wie beispielsweise eine Push-Fertigungssteuerung, werden deshalb selber unbeherrschbar komplex. Sie sind aufwändig, starr und ihr Ergebnis stimmt oftmals wenig mit der ursprünglichen Planung überein.

Pläne, die zu ungeplanten Fehlern führen
Der Geschäftsführer eines Produktionsunternehmensbeklagte sich bei mir, dass man sich beim Fertigungsplan nur auf eines wirklich verlassen kann – nämlich dass er nicht stimmt. »Je genauer wir planen, desto mehr müssen wir gegensteuern.« Die Klage der Kunden über zu lange Lieferzeiten und unpünktliche Lieferungen nimmt nicht ab1. PPS-Systeme scheinen die Termintreue eher zu verringern2. Das liegt nicht an unfähigen Managern und Mitarbeitern. Es liegt daran, dass zentrale, deterministische Systeme unter komplexen Bedingungen nicht beherrschbar sind. Dieser Befund bleibt natürlich nicht auf die Fertigung beschränkt. Weitere zentrale, deterministische Systeme sind beispielsweise:

  • Kostenrechnungs- und Controllingsysteme
  • zentral erstellte Arbeitspläne und Zielsysteme
  • Innovations- und Verbesserungsmanagement

Falls diese Systeme auf ungeeignete Weise gegen die Komplexität ankämpfen, wären auch sie aufwändig, starr und fehleranfällig und müssten auf den Prüfstand. Unangenehmerweise sind Defizite nicht so einfach zu erkennen, wie bei der Steuerung. Umständliche Prozesse, verpasste Chancen oder überdimensionierte Technologien werden von den Kunden nicht direkt angemahnt.

Neue Arbeitsorganisation: Lean-Management für das ganze Unternehmen
Mit der ziehenden Steuerung (Pull) stellt das Lean-Management eine Alternative für die Fertigungssteuerung zur Verfügung. Pull-Systeme verzichten bewusst auf den Versuch dezentrale Belange aus Zentralbereichen heraus bis ins Detail zu beeinflussen. Ihre Kennzeichen sind eine zeitnahe, selbstorganisierte Reglung, statt einer vorauseilenden Planung und Steuerung. Damit entfällt die Notwendigkeit, umfassende Berechnungsvorschriften und Regelwerke aufzustellen und Zustände vollständig beschreiben zu müssen. Das Beispiel Toyota zeigt erfolgversprechende Möglichkeiten nicht nur zur Umgestaltung der Logistik, sondern auch von Kostenrechnung, Controlling und Arbeitsplanung. Durch dezentrale Eigenverantwortung und Bündelung von Zuständigkeiten in einer Hand wird der Koordinationsbedarf wirkungsvoll reduziert. Auf zentrale, deterministische Systeme kann weitgehend verzichtet werden. Die Grundlage dazu schafft eine sogenannte »Prozessgerechte Aufbauorganisation«, also die Gestaltung von Teams und Bereichen nach Produkten und Prozessen. In Kürze möchte ich dazu einen weiteren Blog-Beitrag schreiben.

1 Verfahren der Fertigungssteuerung – Grundlagen, Beschreibung, Konfiguration, Hermann Lödding, Springer-Verlag, 2007
2 Flexibilität durch Technologieeinsatz?
Nutzung und Erfolgswirkung flexibilitätsfördernder Technologien, Oliver Kleine, Steffen Kinkel und Angela Jäger, Fraunhofer ISI, Karlsruhe 2007

Axel Korge

Axel Korge hat das Institut verlassen.

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