Die Energie- und Elektronikbranche gehört zu den am stärksten vom Fachkräftemangel betroffenen Sektoren. Laut einer von unserem Team im Sommer 2023 durchgeführten europaweiten Umfrage unter Personalverantwortlichen in mehr als tausend Unternehmen der Energiebranche gibt jeder oder jede zweite Personalverantwortliche an, dass sein oder ihr Unternehmen in den letzten Jahren Schwierigkeiten hatte, offene Stellen im Bereich Forschung und Entwicklung (FuE) zu besetzen. Vor allem Frauen standen bisher nicht im Fokus der Personalrekrutierung. Unseren Daten zufolge ist nur eine von fünf FuE-Fachleuten weiblich. Wenn die Herausforderungen groß und schwer zu lösen scheinen, kann es helfen, über den Tellerrand hinauszuschauen.

Im Jahr 2022 untersuchte die Green Collar Women Association (YEYKAD) im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH die Situation von Frauen in der türkischen Energiebranche. In einem Interview zeigt Cemre Ucar, eine der Autorinnen der Studie, auf, welche Lehren wir daraus für den Fachkräftemangel in Deutschland ziehen können.


Cemre Uçar, (Quelle: Cemre Uçar)

Hallo Cemre, zum Einstieg für unsere Leserinnen und Leser in Deutschland: wie sieht der türkische Energiemix für Heizen und Stromerzeugung aus? Welche Energieträger sind dabei am wichtigsten und auf welche wird die Türkei in der Zukunft besonders setzen?

Der türkische Energiemix für Heizen und Stromerzeugung ist facettenreich. Erdgas spielt eine zentrale Rolle in der Energieversorgung, sowohl in der Stromerzeugung als auch beim Heizen. Kohle war in der Vergangenheit bedeutend, wird jedoch aufgrund von Umweltbedenken zurückgedrängt.

Der Nationale Energieplan der Türkei für 2022 strebt eine breitere Diversifizierung des Energiemixes an, indem er den Ausbau erneuerbarer Energien wie Wind- und Solarenergie priorisiert. Die Türkei setzt sich ehrgeizige Ziele, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu reduzieren und Energiesicherheit sowie Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Hierbei spielen die Optimierung der Energieeffizienz, Förderung der Energiespeicherung und die Integration von Kernenergie eine Rolle. Sie plant den Ausbau von Photovoltaik- und Windenergieanlagen bis 2035, um bis 2053 Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Obwohl der Energiebedarf steigt, betont die Türkei die Notwendigkeit, die Energieabhängigkeit zu minimieren und dabei auf die reichhaltigen Ressourcen des Landes zu setzen. Gleichzeitig wird die Schaffung einer passenden Infrastruktur als grundlegend angesehen, um diese Ressourcen effektiv zu nutzen.

In welchen Bereichen der Energiewirtschaft sind Frauen besonders häufig tätig und welche Rollen haben sie dort üblicherweise?

Frauen spielen im türkischen Energiesektor im Allgemeinen eine wichtige Rolle in den Bereichen Verwaltung, Marketing, Verkauf, Kundendienst und Business Relations. Innerhalb technischer Positionen, Projektmanagement und Ingenieurswesen sind Frauen in leitenden, forschenden und entwickelnden Rollen unterrepräsentiert. Niedrig ist der Anteil der Technikerinnen vor allem in traditionell männlich dominierten Sektoren wie Kohle.

Leider gibt es in der Türkei nach wie vor keine offiziellen Zahlen zum Anteil von Frauen und Männern in der Energiewirtschaft. Aus den Daten, die wir von 31 führenden Unternehmen erhalten haben, die zusammen rund eine Millionen Beschäftigte in der türkischen Energiebranche repräsentieren, geht hervor, dass die Beschäftigungsquote von Frauen bei nur 15 Prozent liegt. In unserer Gruppe »Türkische Frauen im Sektor der erneuerbaren Energien«, die damals mehr als 1600 Mitglieder hatte, stellten wir fest, dass nur 3 Prozent der Mitglieder leitende Positionen und Entscheidungspositionen innehatten.

Im direkten Vergleich von Deutschland und Türkei fällt auf, dass der Frauenanteil in MINT-Studiengängen in der Türkei viel höher als in Deutschland ist. Der Frauenanteil in der privatwirtschaftlichen FuE ist laut unseren europaweiten Befragungsdaten dann aber in Deutschland und Türkei gleich niedrig bei weniger als 20 Prozent. Warum gehen beim Übergang von der Uni in die Industrie so viele Frauen in der Türkei verloren?

Der Übergang von Uni in die Industrie, besonders in MINT-Fächern, birgt viele in unserem Bericht diskutierte Hindernisse für Frauen. Diese beziehen sich auf Unternehmenspolitik, fehlende Elternrechte, gesellschaftliche Normen und Stereotype, unklare Karrierewege und finanzielle Hürden. Insbesondere gesellschaftliche Normen über traditionelle Geschlechterrollen beeinflussen die Berufswahl nach dem Studium und die Rolle von Frauen in der Arbeitswelt stark. Einige Frauen müssen aufgrund dieser Hindernisse ihre Laufbahn im Energie- und F&E-Sektor sogar beenden.

Der Mangel von Frauen in der Energiewirtschaft ist nicht auf mangelnde Fähigkeiten oder Interesse zurückzuführen. Eine ganze Reihe von Studien zeigt, dass eher der unzureichende Zugang zu Forschungsmitteln, der Gender-Pay-Gap und eine von Männern dominierte Kultur Frauen abschrecken. Ein weiteres Problem sind nach Geschlecht getrennte Schulen, die durch ihre Profillegung eine stereotype Berufswahl unterstützen.

Welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit die in eurer Studie aufgestellten Forderungen von Politik und Industrie umgesetzt werden?

Aus meiner Sicht gibt es mehrere Schlüsselfaktoren zur Verbesserung der Situation von Frauen in der Energieindustrie. Eine robuste Unternehmenskultur mit klaren und wirksamen ethischen Standards und einem effektiven Monitoring schafft Vertrauen und Perspektiven für die Karriereentwicklung von Frauen. Frauen profitieren in besonderem Maße von der Möglichkeit, eine Karriere proaktiv und strategisch zu planen. In Bezug auf eine solche Good Governance im öffentlichen Sektor, der Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft kann die Türkei noch besser werden.

Aber diese Umgestaltung erfordert finanzielle Mittel, und auch hier gibt es in der Türkei Defizite. Das Wort »Gleichstellung« wird im aktuellen türkischen Haushaltplan nicht einmal genannt. Das Budget für die Frauenförderung ist völlig unzureichend. Staatliche Interventionen und Richtlinien auf politischer Ebene sind hier dringend erforderlich.

Es bedarf eines staatlichen Monitorings, um nachvollziehen zu können, was der Bedarf an staatlichen Maßnahmen zur Gleichstellungsförderung in der Energiebranche ist, wie finanzielle Mittel zur Förderung der Gleichstellung eingesetzt werden und mit welchem Ergebnis. Dafür sollte es ein Referat für Gleichstellung in den zuständigen Ministerien geben. Im Moment gibt es da nichts außer dem Generaldirektorat für den Status der Frauen im Ministerium für Familie und Soziales.

Zusätzlich sind umfassende Aufklärungskampagnen und Sensibilisierung der Unternehmen notwendig, um die Vorteile einer diversen Belegschaft hervorzuheben und ihnen klarzumachen, dass ein niedriger Frauenanteil in der Belegschaft sich in naher Zukunft negativ auf ihr Prestige auswirken kann. Eine transparente Berichterstattung über die Gleichstellung in Unternehmen wird durch die Verbreitung des internationalen ESG-Standards eine größere Rolle spielen. Dann betrachten Unternehmen Gleichstellungsmaßnahmen nicht nur unter Profitabilitäts-Aspekten, sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Compliance mit internationalen Finanzstandards.

Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Förderung von MINT-Bildung für Mädchen. Hier könnten Medien wie das Fernsehen eine Schlüsselrolle spielen, indem sie anstatt der hundertsten Dramaserie Programme wie SciGirls ausstrahlen, die das Interesse von Mädchen an MINT-Berufen wecken.

In Bezug auf die Förderung von Frauen in der europäischen Energiewirtschaft stehen alle Länder vor ähnlichen Herausforderungen. Was würdet ihr einem oder einer deutschen HR-Manager oder -Managerin raten: welche Maßnahmen können kurzfristig für eine wirksame Frauenförderung ergriffen werden?

Jedes Land hat seine eigenen Gründe für das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Aber eine universelle Herausforderung ist der Gender-Pay-Gap zwischen Männern und Frauen. Nach aktuellen Schätzungen wird er sich erst im Jahr 2120 schließen. Die Förderung von Lohntransparenz ist daher von entscheidender Bedeutung, um die Ungleichheit einzudämmen. Die Förderung von interner Kommunikation und Soft Skills kann dem Stereotyp entgegenwirken, dass Frauen in kognitiv anspruchsvollen Rollen weniger erfolgreich sind. Darüber hinaus hat die Bereitstellung von technischen Schulungen und Führungskräfte-Mentorings für Beschäftigte in einfachen Positionen sowie von Maßnahmen, die weibliches Intrapreneurship fördern, vielversprechende Ergebnisse gezeigt.

Cemre, vielen Dank für deine Zeit und die spannenden Einblicke in eure Forschung und die besondere türkische Perspektive bzgl. Fachkräftemangel.

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Clemens Striebing

Clemens forscht am Center for Responsible Research and Innovation des Fraunhofer IAO über Organisationskulturen und Diversity in Forschungs- und Entwicklungsprozessen. Er ist überzeugt, dass es die Reibungen zwischen unterschiedlichen Sichtweisen sind, die zu sozialen Innovationen führen.

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