Die Fachwelt spricht seit über zehn Jahren von der Industrie 4.0 und der digitalen Transformation unserer produzierenden Industrie, aber was ist mit Kornkammern 4.0? Wir sollten anfangen, mutiger zu denken: Können Innenstädte von heute dank hyperlokaler Lebensmittelproduktion, controlled environment agriculture (CEA) und intelligenter Integration ins Stadtsystem nicht urbane Kornkammern von morgen sein?

Morituri te salutant – Die Innenstadt ist tot, lang lebe die Innenstadt.

Der vielerorts verkündete Abgesang auf die Innenstädte hat einen einfachen Grund: Ihre Funktion als Handelszentren hat sich überholt wie damals ein Nokia-Mobiltelefon zwei Jahre nach Einführung des iPhones. Und unsere Entscheider, Planer, Wirtschaftsförderer und Politik halten es wie einst Friedrich Wilhelm II. beim Fortschritt: »Ich glaube an das Pferd, das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.« Wenn Innenstädte ein Produkt wären, sollten wir das Geschäftsmodell überdenken, die Nutzenden in den Fokus stellen und neue Funktionen entwickeln. Aus Sicht der angewandten Forschung ist es keine Frage, ob, sondern wie es weitergeht. Es gibt einen zeitlosen Erfolgsfaktor jeder Innenstadt – ihre Lage. Jede Innenstadt ist meist ein geografisches Zentrum, d.h. für alle Stadtbewohnerinnen und -bewohner der Ort mit der kürzesten Entfernung und besten Erreichbarkeit, mit öffentlichen Funktionen, kulturellen Einrichtungen, Freizeitangeboten uvm. In der Aufmerksamkeits-, Plattform- und Kreislaufökonomie des 21. Jahrhundert ist dies ein recht stabilisierender Faktor.

Was viele vergessen: Bis zur Industrialisierung waren die Innenstädte von Paris, London oder New York wesentliche Produktionsstätten für die städtische Versorgung – von Obst- und Gemüseanbau bis zur Viehhaltung . Historische Zehntscheuern und Kornkammern sind Zeitzeugen. Erst die Fortschritte im Transportwesen des 19. Jahrhunderts (Eisenbahn, Kühlwagen, …) und der große Zuzug Arbeitsuchender für die neu entstehenden Fabriken verlagerten die Landwirtschaft vollends vor die Tore der Stadt, mittlerweile verstreut in alle Welt von Tomatenplantagen in Südspanien, Getreidefeldern in der Ukraine bis zu Tilapiafarmen in Thailand.

Qui vivra, verra – Innenstädte und Quartiere als Kornkammern 4.0

Im Verbundforschungsprojekt »Future Public Spaces | Innenstadt 2030+« hat das Fraunhofer IAO zusammen mit Projektpartnern aus Kommunen und Wirtschaft 2021 bereits das Leitszenario #ElastiCity entwickelt. Es ist die Vision multifunktionaler und »elastischer« Innenstädte, die angesichts Verkehrswende, Klimafolgen, neuen Konsummustern und Smart-City neue Perspektiven bietet und sich tageszeitabhängig oder saisonal anpassen oder neu erfinden kann – die Innenstadt als Experimentierraum der Stadt von morgen.

Wie könnte Urban Farming in Zukunft aussehen? Ungenutzte Flächen mit hydro-/aeroponischen Anbausystemen. Quelle: Bing AI.

Wie könnte Urban Farming in Zukunft aussehen? Ungenutzte Flächen mit hydro-/aeroponischen Anbausystemen. Quelle: Bing AI.

Aktuelle Forschungserkenntnisse des Fraunhofer IAO im Rahmen der »Morgenstadt: Future District Alliance« zeigen weitere Potenziale für den Bereich der urbanen Lebensmittelversorgung auf. Ungenutzte Dachflächen, bald leerstehende Tiefgaragen oder Büroflächen können von hydro-/aeroponischen Anbausystemen oder Gewächshäusern genutzt werden. Wenige Quadratmeter Stadtraum reichen durch Nutzung von vertikalen Anbausystemen rechnerisch, um den Kalorienbedarf eines Stadtbewohners ganzjährig zu decken. Beispiele wie Stuttgarts erste vertikale Indoor-Farm »Kleinblatt« produzieren bereits über 20 Sorten Microgreens, »Mass Customization« ist dank intelligenter Steuerung problemlos möglich.

In Montréal, Kanada, gibt es bereits urbane Dachgewächshäuser mit zusammen bald mehr als 50 000m² Anbaufläche und emissionsfreier Belieferung. Potenzialanalysen zeigen, dass eine durchschnittliche Innenstadt (ohne Einschränkung der bestehenden Nutzungen) bis zum Jahr 2050 mehr als Drittel der Stadtbewohnerinnen und -bewohner versorgen könnte – gleichzeitig wird u.a. Versorgungssicherheit erhöht, Transportwege minimiert, Lebensmittelqualität verbessert, Bewusstsein für klimaneutrale Ernährung gestärkt, Boden- und Wasserbrauch anderswo reduziert, Arbeitsplätze geschaffen.

Wäre es nicht an der Zeit, mutiger und radikaler über die Innenstadt von morgen nachzudenken und zu handeln?

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Steffen Braun

Zukunftsstadtgestalter und Geschäftsfeldleiter/Institutsdirektor am Fraunhofer IAO. Er ist Mitbegründer der Morgenstadt-Initiative und forscht mit seinen Kollegen intensiv daran, wie die Stadt von morgen aussehen kann und wie sie unser Leben und Arbeiten verändern wird.

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Kategorien: Nachhaltigkeit, Stadtentwicklung
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