Wir standen Ende des 19. Jahrhunderts in Stuttgart vor einer Herausforderung, die uns heute nicht ganz unbekannt sein dürfte: Der aufkommende Wohlstand der späten Industrialisierung mit einer zunehmenden Mittelschicht ermöglichte es immer mehr Familien, eigene Kutschen anzuschaffen. Skeptiker befürchteten damals einen Verkehrskollaps durch die steigende Anzahl der Kutschen – das Flanieren auf der Straße wurde immer gefährlicher – und damit auch der Pferde, die ihren Mist auf den Straßen zurückließen. Stadthygiene war damals durch mechanische Entsorgungssysteme (chemische Wasserbehandlung wurde erst 1898 in den USA erfunden) nur teilweise in den Griff zu bekommen. Das noch junge Automobil, die Kutsche ohne Pferde, wurde als eine Art technisches »Heilmittel« gesehen, sogar als umweltfreundlichere und stadtverträglichere Alternative zur damaligen »pferdebetriebenen« Mobilität.

Und Stuttgart dachte damals bereits voraus und errichtete mit dem Schwabtunnel 1896 den ersten Autotunnel weltweit. Fast zeitgleich ging das erste Motortaxi seinerzeit in Stuttgart und nicht anderswo in Betrieb. Und auch bei der Errichtung von Fußgängerzonen war Stuttgart in der Nachkriegszeit führend (Schulstraße 1953). Wir können also in Stuttgart Zeichen setzen für die Zukunft der Mobilität, damit haben wir Erfahrung!

Herausforderung heute: Das ‚Big Picture‘ der Stadt von morgen erkennen

Wir stehen heute in Stuttgart vor einer neuen Verkehrswende im Kontext von E-Mobilität, Autonomem Fahren, Car-Sharing und neuen Mobilitätsdienstleistungen. Alle reden darüber, wie uns autonome Fahrzeuge zukünftig vor moralische Entscheidungslogiken stellen. Aber nur wenige denken neben den negativen Aspekten wie Feinstaubbelastung, Handelseinbußen oder Fahrverbote über das »Big Picture« für die Stadt nach: die städtebauliche und organisatorische Chance, die Innenstadt wieder für den Menschen zu gestalten und den Verkehr »verschwinden zu lassen« – wohlgemerkt ohne unsere individuelle Mobilität zu beeinträchtigen, sondern einfach entlang des technischen Fortschritts weiterzuentwickeln.

Die Vision einer autofreien Innenstadt bedeutet nicht automatisch das Chaos für den Autofahrer, den Lieferverkehr oder für den Handel. Vielmehr sind Handel und Logistik sowieso gerade gefordert, sich neu zu erfinden. Die Zunahme des Online-Handels ist kein vorübergehender Trend, den man aussitzen kann, sondern Zeichen der digitalen Transformation und einer unweigerlichen Veränderung von Konsumpräferenzen, Standortfaktoren und Immobilientypen, vereinfacht ausgedrückt: Keiner baut mehr Einkaufszentren – die Zukunft der Innenstadt muss anders aussehen. Und schließlich geht auch der Fahrzeugbesitz bei der jüngeren Generation zurück.

Aus Sicht der angewandten Forschung zur Stadt von morgen ist es deshalb erstmal schön, dass – zwar mit knapper Mehrheit – im gemeinderätlichen Ausschuss für Umwelt und Technik der Stadt Stuttgart für eine Ausweitung der Fußgängerzone und damit für eine autofreiere Innenstadt gestimmt wurde. Erstmal sollen ca. 150 oberirdische Parkplätze zugunsten von Flanierzonen wegfallen. Doch dies kann nur die Spitze des Eisbergs sein!

Wandel zur autofreien Innenstadt durch nachhaltige Zulieferverkehre und Vernetzung des Handels

Wir haben am Fraunhofer IAO zusammen mit den Partnern evopark, veloCARRIER und der Stadt Stuttgart im Juni 2017 das Forschungsprojekt »Park_up« gestartet zur zeitweisen Umnutzung von freien Parkhausflächen für nachhaltige Zulieferverkehre in der Innenstadt. Gleichzeitig sind wir seit 2016 in der Initiative »logSPAZE« mit Wirtschaftspartnern dabei, alternative Zustellkonzepte abseits dieselbetriebener Pakettransporter zu erproben. Und in der nicht weit gelegenen Stadt Reutlingen realisieren wir mit Unterstützung des Bundesforschungsministeriums im Projekt »Smart Urban Services« eine wegweisende Steuerungsplattform für die Innenstadt, bei der Apps und stationäre iBeacon-Sensoren Nutzer über Angebote, Aktionen oder Produktinformationen von Geschäften und gastronomischen Einrichtungen ortsabhängig informieren.

Was bislang noch fehlt: Trotz der ganzen hitzigen Diskussion und das Ringen um jeden einzelnen Parkplatz haben nur die wenigsten ein klares Bild oder eine Vision im Kopf, wie wir den oben skizzierten Wandel hin zu einer autofreieren, lebenswerteren, saubereren und zugleich handelsförderlicheren Innenstadt in Stuttgart bewältigen können. Ich bin aber überzeugt, dass – wenn wir jetzt die richtigen Leitplanken setzen und das vorhandene Wissen und die richtigen Akteure an einen Tisch bekommen – wir diese Vision in einem ersten Schritt konstruieren und in einem zweiten Schritt auch umsetzen können.

Agile Organisationen setzen in schnellem Maße Mittel frei, um erkannte neue Wege zu beschreiten. Die Mittelverwendung wird dabei nicht fernab der Praxis entschieden, sondern praxisnah und ad-hoc am erkannten Bedarf gesteuert. Im Interview wird allerdings klar, dass dringliche Beschaffungen aufgrund umfangreicher Ausschreibungsformalitäten und -laufzeiten sowie langer Dienstwege nicht zeitnah befriedigt werden können.

Frei nach Peter Drucker: Die Zukunft Stuttgarts lässt sich am besten vorhersehen, indem man sie aktiv gestaltet, oder? Wir laden dazu ein, dies am 29. und 30. November 2017 bei der 2. Auflage der Morgenstadt-Werkstatt in Stuttgart mit uns zu tun!

Warum machen wir die Innenstadt Stuttgarts nicht zu einem echten Schaufenster in die Zukunft für die IBA Region Stuttgart 2027?

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Steffen Braun

Zukunftsstadtgestalter und Geschäftsfeldleiter/Institutsdirektor am Fraunhofer IAO. Er ist Mitbegründer der Morgenstadt-Initiative und forscht mit seinen Kollegen intensiv daran, wie die Stadt von morgen aussehen kann und wie sie unser Leben und Arbeiten verändern wird.

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