Jedes Unternehmen scheint unter Agilität etwas Anderes zu verstehen: Manche wollen schneller und flexibler werden, andere wollen ihre Innovationskraft und Anpassungsfähigkeit verbessern, und weitere suchen in agilen Methoden ein Mittel gegen die Unsicherheit und Mehrdeutigkeit auf den Märkten. Für immer mehr Unternehmen wird sogar die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Rahmen der agilen Gestaltung zu einem Instrument, um die Attraktivität als Arbeitgeber im Kampf um Fachkräfte zu erhöhen.

Blaupause für agile Unternehmen

Ein einfaches Gedankenexperiment hilft, agile Prinzipien zu verstehen. Stellen Sie sich vor, ein wichtiges und zeitkritisches Vorhaben droht zu scheitern. Man würde eine Taskforce mit dem Auftrag bilden, das Vorhaben zum Erfolg zu bringen. Die Mitglieder der Taskforce stellt man so zusammen, dass sie alle benötigten Qualifikationen besitzen und stattet sie mit den erforderlichen Ressourcen aus. Außerdem führt man sie räumlich zusammen und entbindet sie von anderen Aufgaben. Und man gibt der Taskforce das Recht und die Pflicht, alles zu tun und zu entscheiden, was im Rahmen des Vorhabens anfällt. Falls das Vorhaben zu retten ist, wird es einer solchen Taskforce gelingen.

Überträgt man diese Ansätze auf das gesamte Unternehmen, also auf alle Entwicklungs-, Produktions-, Dienstleistungs- und Managementprozesse, bekommt man agile Organisations- und Führungsstrukturen.

Säule 1: Nicht warten müssen – Prozessgerechtes Arbeiten

Man passt die Bereiche den Prozessen an. Das Ziel: Der gesamte Prozess, etwa ein Kundenauftrag, eine Produktentwicklung oder ein Projekt, können passgenau und ohne weitere Schnittstellen bearbeitet werden. In der bisher üblichen, funktional arbeitsteiligen Organisation, läuft jeder Prozess über viele Bereiche und muss an jeder Schnittstelle aufwändig koordiniert werden. Das kostet Zeit und die Übersicht geht verloren. Aus der Lösung selbst kleinster Probleme resultiert ein Abstimmungsmarathon – oder aber die Probleme werden einfach ignoriert und bleiben auf immer bestehen.

Die Teams in den Bereichen werden so interdisziplinär aufgestellt, das alle benötigten Qualifikationen abgedeckt werden. Man führt das Team räumlich zusammen und stattet es mit den erforderlichen Ressourcen aus. Auf diese Weise kann jedes Team sein Tagesgeschäft erfüllen, ohne auf die Mitwirkung anderer warten zu müssen – es ist also autark. Das macht schnell und flexibel, minimiert die Koordinationsaufwände und schafft Transparenz. Jedes Team ist nah am Markt und erlebt die Anforderungen der Kunden hautnah. Dieser direkte und ungefilterte Druck treibt Verbesserungen, Innovationen und Anpassungen auf Wandel voran.

→ Praxistipp 1: Organisation an die Prozesse anpassen

Wenn aber ein Unternehmen an funktionalen Bereichen oder einer Matrixorganisation festhält, und damit jeder Prozess über viele Bereiche und Schnittstellen läuft, kann niemand autark agieren. Kein Beschäftigter hat einen Überblick über den gesamten Prozess und auch der Druck der Kunden und Märkte wirkt allenfalls sehr indirekt. Eine kunden- und leistungsorientierte Einstellung kann so nur schwer entstehen.

Säule 2: Nicht fragen müssen – Selbstorganisierte Teams

Jedes Team handelt selbstorganisiert und entscheidet eigenverantwortlich über die Belange des Tagesgeschäfts – es ist also autonom. Weil das Team niemanden fragen muss, können Entscheidungen und Freigaben in Minuten statt in Tagen getroffen werden. Komplexe Probleme oder unklare Aufgabenstellungen werden vor Ort geklärt und situationsgerecht bearbeitet.

Mit der Bildung selbstorganisierter Teams in prozessgerechten Bereichen werden Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung in Überdeckung gebracht. Jeder Beschäftigte weiß, wofür er zuständig ist, und kann die Prozesse und die Ergebnisse tatsächlich beeinflussen.

→ Praxistipp 2: Weniger Kontrolle und Regeln, mehr Vertrauen und Eigenverantwortung

Mit jeder Regelung verliert ein Unternehmen an Agilität. Ein Beschäftigter, der ständig beschützt und angeleitet wird, lernt nicht, selbständig zu handeln und zu entscheiden. Wer eng kontrolliert wird, entwickelt keine Eigenverantwortung, sondern wird nachlässig (oder gar trotzig).

Säule 3: Wiederholprozesse perfektionieren – erst dann digitalisieren

Bei jeder Art von Arbeit gibt es Wiederholprozesse. Jedes Mal zu improvisieren und das Rad ständig neu zu erfinden, würde wertvolle Kapazitäten verschwenden und die Durchlaufzeiten verlängern. Um die Beschäftigten zu entlasten sowie um Produktivität und Qualität zu erhöhen, werden deshalb Wiederholprozesse vereinfacht, optimiert und standardisiert.

Je öfter sich ein Prozess wiederholt, desto mehr Aufwand wird in diese Perfektionierung gesteckt. Lean-Management und agile Methoden bieten bewährte Methoden zur Unterstützung von Wiederholprozessen an. Erst wenn ein Prozess einfach, optimiert und standardisiert ist, kann er wirkungsvoll automatisiert werden.

→ Praxistipp 3: Digitalisierung gründlich vorbereiten

Werden Prozesse ohne vorherige Perfektionierung automatisiert, stellt sich der angestrebte Erfolg oft nicht ein. Ein automatisierter Saustall entsteht, er ist fehleranfällig, intransparent und teuer.

Säule 4: Vertrauen ist gut, Kontrolle schadet!

Agilität ist viel mehr als die Implementierung interdisziplinärer Teams, die Scrum anwenden. Letztendlich ist Agilität eine Frage der Unternehmenskultur. Es braucht eine Veränderung in den Köpfen sowohl der Führungskräfte, als auch der Beschäftigten. Das Unternehmen ist agil, wenn es gelebte Selbstverständlichkeit ist, ständig besser zu werden, sich an den Kunden zu orientieren und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.

Entwickelt wird eine agile Kultur durch eine klare Vision, wie das Unternehmen ticken soll. Den Antrieb liefert der bereits erwähnte ungefilterten Druck der Kunden. Entscheidend ist das Verhalten der Führung, die einerseits Agilität einfordert und andererseits lernen muss, loszulassen.

→ Praxistipp 4: Kulturwandel partizipativ und konsequent umsetzen

Allerdings versuchen manche Führungskräfte und Zentralbereiche »nur ein bisschen« loszulassen, schlussendlich jedoch die umfassende Kontrolle zu behalten. Fremdsteuerung und Selbststeuerung sind aber unvereinbare Gegensätze. Man kann sie nicht unter einen Hut bringen kann. Eine Führungskraft muss nicht alles delegieren, aber wenn sie eine Aufgabe übergeben hat, darf sie nicht mehr hineinregieren.

Säule 5: Aus Fehlern lernen

Der Ausspruch »Begrüße Fehler« bringt die agile Fehlerkultur auf den Punkt. Denn ohne Fehlertoleranz werden Verbesserungen und Innovationen behindert.

→ Praxistipp 5: Fehler als Chance begreifen

Zum einen werden Fehler verschwiegen und verschleiert, wenn diejenigen bestraft werden, die den Fehler begingen. Wird ein Fehler aber nicht sichtbar, kann er nicht ausgeräumt werden.

Zum anderen kann man nicht verbessern, was man nicht versteht. Unsichere Situationen, undurchschaubare Aufgaben und mehrdeutige Ziele (moving targets) bewältigt man, indem man Sachverhalte schrittweise ausprobiert. Schlussendlich geht es um die Planung, Durchführung und Auswertung von Experimenten. Bei diesem Lernen durch Versuch und Irrtum ist ein Misserfolg (Fehler, der das Problem nicht ausräumt), für das Verständnis des Sachverhalts genau so wertvoll, wie ein Erfolg.

Ein bisschen schwanger…

Diese Ansätze mögen extrem erscheinen. Wenn aber die erforderliche Agilität mit klassischen Konzepten nicht erreichbar ist, so führt kein Weg an einer radikalen Dezentralisierung vorbei. Teilweise probieren Unternehmen, Scrum oder interdisziplinäre Teams ohne eine wirkliche Veränderung von Organisation und Kultur zu gestalten. Das gleicht dem Versuch, einen Apfelbaum auf einer Betonplatte anzupflanzen. Zwar wundert man sich, wo sich Bäume festkrallen können, aber viele, schöne Früchte wird dieser Baum kaum tragen.

Dass man Agilität in besserer Weise realisieren kann, zeigen kleine Unternehmen (KMU) und Startups. Sprechen Sie mich bei Fragen gerne an.

So geht es weiter

In der Blogreihe »Arbeitswelt 4.0« zeigen wir auf, was sich verändert, welche Handlungsmöglichkeiten für Unternehmen resultieren und worauf sie im Veränderungsprozess achten sollten. Dargestellt werden Ergebnisse aus dem Projekt »DIALOG ARBEITSWELT 4.0 IN BADEN-WÜRTTEMBERG«. In diesem Projekt haben wir erforscht, wie kleine und mittelständische Unternehmen im Ländle ihre führende Position in den kommenden Jahren verteidigen können. Das Projekt wurde vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau Baden-Württemberg gefördert und gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Soziologie der Universität Hohenheim bearbeitet.

Mein nächster Blogbeitrag in der Blogreihe »Arbeitswelt 4.0« wird in Kürze erscheinen. Er vertieft die Rolle der Menschen im agilen Unternehmen.

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Axel Korge

Axel Korge hat das Institut verlassen.

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Kategorien: Advanced Systems Engineering (ASE), New Work / Connected Work
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