»Wir können die Bewerberin nicht nehmen. Sie ist jetzt dreißig und ist verheiratet. Sie bekommt sicher bald Kinder.« In der Regel kommt geschlechtsbezogene Diskriminierung nicht derart mit dem Holzhammer daher, wie in dieser zitierten Aussage. Diese hatte eine Kollegin vor einigen Jahren (und bei einem anderen Arbeitgeber) beim gemeinsamen Sichten von Bewerbungsschreiben getätigt. Viel häufiger kommt geschlechtsbezogene Diskriminierung deutlich subtiler und oft auch unbeabsichtigt daher, in Form des sogenannten Gender Bias.

Fast jeder Mensch hat einen Gender Bias. Dieser Bias beeinflusst zum Beispiel, wie sehr wir einer Frau oder einem Mann zutrauen, eine erfolgreiche Führungskraft zu sein. Einstellungs- und Beförderungsprozesse im Personalmanagement sind voll von geringfügigen geschlechtsbedingten Verzerrungen. Während diese Verzerrungen in Bezug auf einzelne Einstellungsprozesse kaum der Rede wert sind, haben sie in Großunternehmen systemische Ausmaße. Wie ein minimaler Gender Bias große Effekte auf die Karrierechancen von Frauen haben kann, darum geht es in diesem Beitrag.

Was ist ein Gender Bias?

Der Begriff Gender Bias steht für verschiedene Arten geschlechtsbezogener Wahrnehmungsverzerrungen. Ein Gender Bias ist es zum Beispiel, wenn bei der Neuzulassung von Autos nur Sicherheitstests mit auf den Durchschnittsmann standardisierten Dummies gesetzlich vorgeschrieben sind – obwohl bekanntermaßen auch Frauen Autos fahren. Ein Gender Bias liegt auch vor, wenn Wissenschaftler*innen die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei der Erprobung neuer Medikamente nicht hinreichend berücksichtigen. Und jetzt wird es für die Personalentwicklung und Recruiting-Verfahren relevant: Ein Gender Bias ist es auch, wenn wir stereotyp Männern und Frauen bestimmte Eigenschaften und Kompetenzen zuweisen und wenn wir diese Eigenschaften und Kompetenzen auch mit bestimmten Tätigkeiten und Jobs verknüpfen. In vielen Köpfen herrscht das Bild vom Mann als Macher im Wirtschaftsleben, der entscheidungsfreudig, zielstrebig und mit starkem Willen seine Ziele durchsetzt. Frauen hingegen sind mit dem Klischee behaftet, besonders kommunikativ und teamfähig zu sein, Konflikten aus dem Weg zu gehen oder Kompromisse einzugehen. Gleichzeitig gelten die vermeintlich männlichen Eigenschaften oft immer noch als Schlüsselqualifikationen für Führungskräfte.

Minimale Verzerrungen mit systemischen Wirkungen

In Einstellungs- und Personalentwicklungsprozessen wimmelt es von Gender Biases. Auf jeder einzelnen Ebene, ob bei der Sichtung von Bewerbungsunterlagen, dem Ausfüllen standardisierter Eignungstest, im persönlichen Vorstellungsgespräch oder in beförderungsrelevanten Beurteilungen, wird – insofern Unternehmen dem nicht bewusst entgegenwirken – in unterschiedlichem Ausmaß diskriminiert. Die Beispiele dafür sind zahlreich: Persönliche Gespräche werden auf der Beziehungsebene verzerrt, standardisierte Tests fragen nur bestimmte Kompetenzen ab und gewichten diese bei der Auswertung unterschiedlich. In kleinen Unternehmen muss jeder mit jedem können, da ist die Beziehungsebene tatsächlich wichtig. In Unternehmen mit mehreren hundert oder tausend Beschäftigten können die kleinen Verzerrungen in Einstellungs- und Beförderungsverfahren aber schnell systemische Ausmaße erhalten – wie ich in diesem Beitrag zeige.

Die bisherige Forschung zum Gender Bias in Einstellungs- und Beförderungsprozessen hat gezeigt, dass Frauen in Evaluationsprozessen allgemein – also über viele Evaluationsvorgänge und alle möglichen Arten von Organisationen hinweg – minimal benachteiligt sind. In der Sprache der Statistik ausgedrückt, sind weniger als 1% der Abweichung vom Mittelwert aller Evaluationsergebnisse einer Gruppe von Personen durch den Unterschied zwischen den Geschlechtern erklärbar. Der Gender Bias hat statistisch also nur eine sehr geringe Bedeutung, auch wenn es da von Organisation zu Organisation Unterschiede geben kann. In großen Organisationen mit mehrstufigen Rekrutierungsprozessen und Hierarchieebenen kann dieser minimale Gender Bias nun aber wesentliche Auswirkungen haben, wie Tabelle 1 zeigt.

Tabelle 1: Effekte eines kumulierten Gender Bias in Höhe von 0,1% der Varianz von Personalevaluationen (d=0,07).
Adaptiert durch Vinkenburg von Agars (2004).
Tabelle 1: Effekte eines kumulierten Gender Bias in Höhe von 0,1% der Varianz von Personalevaluationen (d=0,07). Adaptiert durch Vinkenburg von Agars (2004)

 

In der Tabelle ist eine Karriere in einem fiktiven Großunternehmen dargestellt. Für die Simulation wurde Folgendes angenommen: Erstens werden alle Bewerber*innen und Anwärter*innen auf eine Beförderung anhand einer Skala von 1 bis 100 bewertet. Zweitens werden Frauen im Mittel minimal schlechter als Männer bewertet. Und drittens werden am Ende jeder Runde immer die Personen mit den höchsten Punktzahlen eingestellt oder befördert. Genau nachlesen lässt sich der Simulationsaufbau bei Agars (2004) sowie Martell und Kolleg*innen (1996).

Von den zweihundert in gleichen Teilen weiblichen und männlichen Bewerber*innen wird die Hälfte eingestellt, wobei sich bereits eine leichte Begünstigung der Männer abzeichnet. Von diesem Personenkreis wird im Lauf ihrer Karriere die Hälfte befördert. In dieser Runde steigt der Männeranteil bereits auf 56%. Die darauffolgende Karrierestufe erreichen dann noch einmal zehn der ursprünglich 200 eingestellten Personen. Der Männeranteil wächst dabei auf 60%. Die Karrierelaufbahn endet in einer Spitzenposition, die dann zu einer Wahrscheinlichkeit von 60 zu 40 von einem Mann bekleidet wird – alles aufgrund minimaler, aber systematischer Verzerrungen in der Leistungsbeurteilung von Frauen.

In der Praxis ist der Gender Bias krasser

In der Unternehmenspraxis gibt es solche »Laborbedingungen« wie in der dargestellten Simulation natürlich nicht. Hier zeigen sich Geschlechterverzerrungen viel krasser: Viele Unternehmen hadern immer noch mit der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. In der Folge geraten vor allem Frauen unter Druck, da sie nach wie vor mehr informelle Arbeit bei der Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen leisten. Empirische Daten belegen zudem, dass Frauen in zahlreichen Berufsfeldern und Branchen als »untypische« Führungskraft gesehen werden, weswegen Frauen mit Führungsverantwortung mitunter kritischer gesehen und mit zweierlei Maßstab gemessen werden.

In Bezug auf Arbeitsplätze in der Wissenschaft wissen wir, dass Frauen generell ein etwas schlechteres Arbeitsklima angeben, sich etwas schlechtere Karrierechancen ausrechnen und angeben, etwas weniger Unterstützung durch ihre Vorgesetzten zu erhalten. All diese minimalen Verzerrungen sind im täglichen Miteinander kaum spürbar, sind aus Sicht der Organisation aber systemisch und konkretisieren sich dann in vermeintlichen Einzelfällen. Im Ergebnis stellen wir sogar in den von Frauen dominierten sozialen Berufen in der Pflege oder Erziehung einen mit jeder weiteren Karrierestufe ansteigenden Männeranteil fest.

Was also ist zu tun?

Ein einzelnes Unternehmen kann nicht die traditionelle gesellschaftliche Rollenverteilung der Geschlechter beeinflussen. Es kann aber bewusst die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben sowie untypische Karrierewege (Führen in Teilzeit, Job-Sharing, Angebote zur Kinderbetreuung, Vorbildrolle der Führungskräfte etc.) fördern. Und insbesondere kann das Unternehmen den Gender Bias in den eigenen Einstellungs- und Beförderungsprozessen beheben. »Sie bekommt sicher bald Kinder.«, einmal ausgesprochen ist der Gedanke im Raum und kann die Bewerber*innen-Auswahl implizit beeinflussen – wenn nicht Ermessensmomente reduziert und Einstellungs- oder Beförderungsentscheidungen klar an rationalen Kriterien orientiert sind. Faktisch bekommt der männliche Bewerber vielleicht viel früher Kinder, aber aufgrund der geltenden Stereotype beeinflusst diese Tatsache seinen Bewerbungsprozess nicht.

Eine Bias-sensible Personalentwicklung muss aber mit der Zeit wachsen. Wenn bspw. plötzlich ab dem zweiten Beförderungsschritt auf Parität der Geschlechter geachtet wird, kann dies unter den Beschäftigten den Eindruck einer positiven Diskriminierung wecken und Widerstand in der Organisation hervorrufen.

Am Center for Responsible Research and Innovation CeRRI begleiten wir Unternehmen, Behörden, Forschungseinrichtungen und andere Organisationen dabei, Diversität und Gleichstellung der Geschlechter zu stärken. Hierfür führen wir Evaluationen und Befragungen durch und leisten wissenschaftlich fundierte Beratung. Falls Sie das Thema »Gender Bias in Organisationen« spannend finden, freue ich mich über die Möglichkeit zum Austausch!

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Clemens Striebing

Clemens forscht am Center for Responsible Research and Innovation des Fraunhofer IAO über Organisationskulturen und Diversity in Forschungs- und Entwicklungsprozessen. Er ist überzeugt, dass es die Reibungen zwischen unterschiedlichen Sichtweisen sind, die zu sozialen Innovationen führen.

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