Die Digitalisierung ist ein schwer greifbares Konstrukt, das aber inzwischen alle Aspekte der zwischenmenschlichen Kommunikation, der industriellen Produktion bis hin zum politischen Diskurs durchwirkt. Dabei bleiben häufig Grundfragen der Innovation auf der Strecke: Wozu eigentlich? Wo liegt der lebensqualitätssteigernde Nutzen? Sollen Kommunen mit dem Tempo des Silicon Valleys mithalten? Oder gibt es alternative Herangehensweisen, die sich an lokale Charakteristika anpassen und die dortigen Potenziale voll ausschöpfen?

Manchmal könnte man denken, die Digitalisierung sei inzwischen Selbstzweck geworden und die Menschen, Städte, Arbeitsplätze dienten nur noch als Kulisse. Doch digitales Innovieren geht anders: Die Technologie liefert die Möglichkeiten, der lokale Kontext die Anwendungsfälle. Kein anderes Format zeigt diese Gegebenheiten so klar auf wie die »Civil City Challenge«, die im Rahmen der Morgenstadt-Werkstatt 2018 erstmals stattfand.

Idee, Prototyp, Dienstleistung – in vier Monaten zum neuen Morgenstadt-Format

Design Thinking gilt als eine simple Vorgehensweise, um sich Kundenbedürfnissen anzunehmen und in fünf bis sechs leicht nachzuvollziehenden Schritten zu einer Iteration zu gelangen. Dabei denkt man vom Standpunkt einer erstrebenswerten User-Experience her und bewusst nicht beeinflusst von den aktuell vorherrschenden technischen Möglichkeiten. Die Phasen nennen sich Understand, Define, Ideate, Prototype und Test. Im Produkt-Design sowie der Softwareprogrammierung ist Design Thinking inzwischen Gang und Gäbe, in der Stadtentwicklung noch selten anzutreffen. Doch warum? Stehen Städte nicht auch vor Herausforderungen, die nach einer konstanten Auseinandersetzung mit den aktuellen Strukturen sowie den Bedürfnissen der Stadtbewohner verlangen?

Als Ökosystem zur Neuentwicklung ko-kreativer Formate bot die Morgenstadt-Werkstatt die perfekte Grundlage für einen Test: Wie lässt sich eine in der digitalen Branchen oftmals verwendete Methode in die Planung komplexer Infrastrukturen integrieren?

Understand

Ob mittelalterlicher Stadtkern, Viertel der Gründerzeit oder durch den motorisierten Individualverkehr des 21. Jahrhunderts geprägte Quadratstadt: Stadtstrukturen sind vielfältig. Welcher Planungseinheit sollten wir uns also annehmen? Die Stadt als Ganzes wäre zu groß, dagegen ein einzelnes Gebäude nicht ausreichend für eine ganzheitliche Betrachtung der städtischen Abhängigkeiten.

Define

Der Untersuchungsgegenstand lag deshalb auf der Quartiersebene, der Masterplanung. Dort werden Verkehrs-, Versorgungs-, Gebäudeinfrastrukturen sowie Wasser- und Grünflächen zusammen gedacht. Eine den alltäglichen Lifestyle definierende Disziplin also, auf die man bei genauerer Betrachtung als Stadtbewohner nur wenig Einfluss nimmt. Wie könnte Stadtentwicklung zum Anfassen aussehen?

Ideate

Eine maßstabsgetreue, haptische Planungsgrundlage zur spielerischen Herangehensweise an komplexe Fragestellungen der Verwaltungsaufgabe Stadtplanung. Die spielerischen Elemente sollten möglichst realitätsnah sein, daher wurden die Rollen der Teilnehmer an tatsächlichen Gegebenheiten des Akteursgefüges eines Stadtentwicklungsprojekts angelehnt. So entstand ein fiktives Abbild der Planung, wissenschaftlich begleitet für den direkten Erkenntnisgewinn in der Entwicklung innovativer Prozessdesigns für Verwaltungen.

Prototype

Am 23. Oktober 2018 war es dann soweit, der erste Prototyp stand. Ein 6×2 Meter großes, maßstabsgetreues Abbild einer Entwicklungsfläche am Rande des Stuttgarter Ostens. Sie bestand aus mehreren hundert Gebäudemodellen, farblich codiert nach Nutzungstypen und einkaufen ist mit mit einer fiktiven Währung möglich. Eine 360-Grad-Kamera diente der Beobachtung des Prozesses.

Test

Nach drei Stunden und dem Feedback von 15 Teilnehmern war klar, dass das Konzept auch in der Praxis tatsächlich funktionieren könnte. Testpersonen übernahmen die Rollen von Akteuren in Politik, Bürgergemeinschaft, Wohnungsbaugesellschaften, Bauunternehmen oder Aktivisten und unterzogen so das Konzept einem Härtetest aus unterschiedlichen Perspektiven. Am Ende entstand trotz hitziger Diskussionen und Interessenskonflikten ein neuartiges Stadtquartier für alle Perspektiven.

Die »Civil City Challenge« auf der Morgenstadt-Werkstatt 2018

In Kooperation mit der Stadt Stuttgart sowie dem Polizeipräsidium Stuttgart wurde die »Civil City Challenge« erstmals als kreatives, interaktives und den Stadtplanungsprozess hinterfragendes Format gezeigt. Es hat den Anspruch, konventionelle, oftmals von Wirtschaftlichkeit und der etablierten Planungsweise getriebene Quartierskonzepte am »Ground-Zero« der Ideenentwicklung zu unterbrechen und mit konsequenter Offenheit auf Gestaltungspotenziale des lokalen Kontextes einzugehen. Die Interdisziplinarität schafft Kreativität, die Modularität eine vielfältig anwendbare Logik der Kollaboration.

Das Format bietet die Grundlage zur selbstreflektierten Auseinandersetzung mit organisationsstrukturellen Gegebenheiten, gerade weil sie nicht den Anspruch erhebt, sofort praktisch umgesetzt zu werden.

Wissenschaftlich begleitet ergeben sich so Erkenntnisse zur Umgestaltung eingefahrener Strukturen, hin zu aktiv und schnell agierenden Organen der öffentlichen Verwaltung. In einem solchen Prozess entsteht zum Beispiel die Morgenstadt-Werkstatt, die wir als Event stets evaluieren und über den Verlauf des Jahres weiterentwickeln.

Wie die nächste Werkstatt aussehen wird? Wir wissen es nicht, würden Sie jedoch gerne daran teilhaben lassen. Ab sofort nehmen Sie nicht mehr nur an der Werkstatt teil, sondern können aktiv an ihrer Entstehung mitarbeiten. Lassen Sie uns über die Herausforderungen und Trends diskutieren, denen sich unsere künftigen Formate annehmen sollen.

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Claudius Schaufler

Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kompetenzteam »Smart Urban Environments« und befasste sich mit der Flexibilisierung von Wohnräumen sowie der Integration von innovativen Mobilitäts-, Leichtbau- und Energiesystemen in die Quartiersentwicklung. Mit Blick auf urbane Trends, wie der Digitalisierung oder Automatisierung des Individualverkehrs erforschte er, wie Wohn-, Freizeit- und Arbeitsräumen umgestaltet werden können. Im Rahmen der Morgenstadt-Werkstatt entwickelte er neue Austauschformate für Kommunen, Ministerien und Unternehmen, hin zu neuen Dienstleistungsangeboten der Morgenstadt-Initiative.

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